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Transhumanz – Der Zug der Schafe

Das Ötztal ist eines der wohl schönsten und besten Beispiele dafür, wes-halb das österreichische Bundesland Tirol jedes Jahr von Touristen aus nah und fern förmlich überrannt wird. Im Winter aufgrund der Möglich-keiten in den Wintersportregionen Sölden-Hochsölden, Obergurgl-Hoch-gurgl und Oetz, im Sommer aufgrund der unglaublichen Wander- und Bergsteigerimpressionen in jener Region der Ostalpen mit den meisten 3000ern. Beispielsweise auf dem Weltwanderweg Via Alpina, der in insgesamt neun Etappen geteilt ist. Vom Inntal aus geht es über 65 Kilo-meter direkt hinein in das Zentrum der Alpen. Es ist das längste Quertal der Ostalpen, das die Stubaier Alpen im Osten von den Ötztaler Alpen im Westen trennt. Bei Zwieselstein teilt sich dieses Haupttal in das Venter- und das Gurglertal. Verkehrstechnisch endet das Gurglertal mit dem Timmelsjoch, einem der höchstgelegensten Grenzübergänge der Alpen (2.474 m über dem Meeresspiegel). Die Timmelsjoch-Hochalpenstrasse ist einer der schönsten Autostraßen Europas und war eine Heraus-forderung für den Strassenbau der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts. Auf Südtiroler Seite liess Benito Mussolini ab 1933 eine Militärstrasse im Passeier errichten, die bis zwei Kilometer vor das Joch reichte, um dadurch die Möglichkeit für eine Offensive gegen Österreich zu bieten. Am 15. September 1968 wurde die Verbindung für den Verkehr freige-geben. 

Das Jahr 2018 war sehr schneereich, während die Räumung 2022 ein-facher und rascher vonstatten ging.

Wer allerdings denken sollte, dass das Ötztal eine erst recht neue Verbindung von Nord nach Süd darstellt, geht fehl. Am 19. September 1991 fand das Bergwanderpaar Erika und Helmut Simon aus Nürnberg am Tilsenjoch (im Similaungletscher) die Leiche eines Mannes. Bei den Untersuchungen an der Universität Innsbruck wurde sehr rasch klar, dass es sich hierbei um einen Menschen handelt, der wohl seit rund 5.300 Jahren im ewigen Eis konserviert die Wirren der Menschheitsgeschichte überstand: Der „Ötzi“ (engl. „Iceman“ oder mein Lieblingsausdruck: „Frozen Fritz“)! Eine Wunde zeigte zudem auf, dass er von einem Pfeil getroffen wurde, dessen Schaft auch wieder herausgezogen wurde. Er war also nicht allein. Dieser Umstand beweist, dass auch unsere Urahnen diese Verbindung über die Alpen durch das ewige Eis der Gletscher („Ferner“) nutzten. Zu Fuss! Der Grund dafür sind die Berge selbst. So schirmt der Tschirgant das Tal vor eisigen Nordwinden ab, die Winde aus dem Süden werden beim Aufsteigen sehr stark erwärmt – das beschert dem Tal ein aussergewöhnlich mildes Klima, das sich zudem auch beim Pflanzenwachstum nachvollziehen lässt. Das Schiefergestein bildet als-dann einen ausgezeichneten Boden dafür. Heute geht die Geschichts-forschung deshalb davon aus, dass diese Hochgebirgsregion schon zu Ötzis Zeiten als Hochweidegebiet genutzt wurde.

In den Chroniken ist nachzulesen, dass schon im 13. und 14. Jahrhundert neben den Herren von Schwangau, von Starkenberg sowie den Klöstern und Stiften von Frauenchiemsee und Stams auch die Herren von Montalban bei Meran zu den Grossgrundbesitzern gehörten. Ein durchaus starker Einfluss also auch von Südtiroler Seite beim nördlichen Bruder. Der erste Saumweg über das Timmelsjoch wurde im Jahr 1320 angelegt. 

Fernab von alledem erfolgt seit Jahrhunderten zweimal im Jahr ein Spek-takel, das eindruckvoller nicht sein könnte: Der Schafstrieb über die Jöcher. Tatsächlich soll diese Tradition rund 6.000 Jahre alt sein – urkundlich erwähnt wurden die Weiderechte der Schnalser Bauern auf dem Rofenberg erstmals anno 1357, im Niedertal anno 1415 (zu besichtigen im Tiroler Landesarchiv in Innsbruck). Vor 1977 querten auf diese Weise rund 7.000 Tiere die Alpen – bis zirka 1900 waren auch Rinder und Pferde dabei.

Mitte Juni werden über 3.000 Schafe in kleineren Gruppen vom Schnalstal in Südtirol bis ins Venttal zur Martin Busch-Hütte und dem Hochjoch-Hospiz aufgetrieben, Anfang bzw. Mitte September erfolgt dann in zwei grossen Gruppen der Abtrieb, wo sie in Vernagt im Rahmen eines grossen Volksfestes („Schôfschoad“) wieder in Empfang genommen werden. Dabei geht es via teils sehr schmale Pfade über Bergwiesen, steile Felsabhänge, durch Gebirgsbäche aber auch durch Schnee und Eis des Similaunferners. Bei Sonnenschein, Regen- oder Schneefall, dichtestem Nebel oder auch von allem etwas, da das Wetter in den Bergen sehr rasch umschlägt. Insbesondere der Aufstieg ist sehr mühsam und gefährlich. Nicht selten müssen Männer mit Schaufeln vor der Herde die Wege freimachen und vortrampeln. Jeder Fehltritt kann das eigene Leben kosten oder viele Tiere in den Tod treiben. Beginnt für die ersten bereits um 03.00 Uhr der eigentliche Aufstieg in Vernagt, kommen etwa die Vinschgauer Gruppen einen Tag zuvor aus Laas über das Taschenjöchl. Ein Zwölfstunden-Marsch, der bereits Mensch und Tier alles abverlangt. Die Überquerung des Alpenhauptkammes erfolgt entweder am Niederjoch (3.019 m) oder dem etwas niedrigeren Hochjoch (2.770 m – dieser Zug endet bei der Rofenbergalm). Ein dritter Zug übrigens mit Tieren aus dem Passeier geht über das Timmelsjoch nach Obergurgl. Bis zum Jahr 1962 wurde noch ein weiterer Auftrieb geführt: Über den Gurgler Ferner mit der Alpenhaupt-kamm-Überquerung am Gurgler Eisjoch (3.154 m)! Diese gefährlichste Tour (Gletscherspalten, Eisfelder, …) aber wurde eingestellt. 

Wir bleiben etwas beim beschwerlichsten, beim ersten Zug. Nach einer kurzen Pause bei der Similaunhütte beginnt der Abstieg in’s Ötztal. Die ersten Schafe werden beim Martin-Busch-Haus zurückgelassen, die zweite Gruppe folgt bei der alten, die restlichen dann bei der neuen Schäferhütte. Nicht allen Schafrassen kann diese Tortur zugemutet werden. Ausgesucht für die Almkräuter und Höhenluft werden vornehm-lich das Tiroler Berg- bzw. Steinschaf und das Schwarznasenschaf. Immer wieder müssen Lämmer über die steilsten Wegstrecken hinweg von den Hirten und Treibern getragen werden. 

Nach elfstündigem Marsch und über 1.800 überwundenen Höhenmetern ist die Karawane auf der Alm angelangt. Im Vergleich dazu die noch beeindruckenderen Zahlen für die Herden aus Laas im Vinschgau: 44 km, 3200 Höhenmeter im Aufstieg und 1800 Meter im Abstieg – wohlgemerkt für den Alm-Auftrieb! Waren am Aufstieg noch bis zu 80 Menschen als Schaufler oder Treiber beteiligt, so reicht für die kommenden drei Monate ein Schäfer mit Hunden, um die Herden zu beaufsichtigen. Einer dieser Schäfer und Leiter des Schafsübertriebs ist Elmar Horrer mit seinem Hirtenhund Aiko. Ein braungebrannter, kerniger Mann, den nahezu nichts mehr erschüttern kann. Er verbringt die meiste Zeit unter freiem Himmel, hat selbst nur die alte oder neue Schäferhütte als Unterstand und ist das Leben allein auf der Alm gewöhnt: Ohne Handy, ohne Internet oder Fernsehen. In der 800 Jahre alten Schäfer-Hütte gibt es nach wie vor keinen Strom oder fliessendes Wasser. Nur selten erhält er Besuch vom zuständigen Jäger oder dem Pächter der Similaunhütte, der ihn auch mit dem Lebensnotwendigsten versorgt. Ansonsten muss er selbst bis nach Sölden absteigen, um sich Vorräte zu holen. Tagwache ist um halb sechs. Als erstes wird mittels des Fernglases der Tierbestand kontrolliert. Kurz danach geht es auch schon in’s Gelände. Schafe müssen gesucht, gebrochene Läufe gegipst und verunfallte oder verendete Schafe geborgen, sowie die Salzbehälter aufgefüllt werden. Ein bis zwei Prozent der Schafe bleiben übrigens verschwunden. Die Hirten sprechen davon, dass sie „vom Berg gefressen“ werden. So spult der Hirte Tag für Tag Kilometer um Kilometer ab. Insgesamt sind es 2.900 Hektar, die zwar nicht abgegangen, allerdings beobachtet werden müssen. 

Neben all den guten Jahren, in welchen nichts geschehen ist, sitzt den Bauern das Jahr 1979 nach wie vor als Katastrophe in den Rippen. Bei einem Schneesturm erstickten unterhalb der Similaunhütte rund 70 Tiere. Das Leben in den Bergen sollte niemals verharmlost werden.

Kein Job für Warmduscher!

Auch das Ötztal profitiert von diesem Zug der Schafe. Dominierte doch dort in Urzeiten der Flachsanbau und später die Rinderzucht die Land-wirtschaft. Erst in letzter Zeit wurden wieder die Vorzüge der Schaf-haltung erkannt. Die Tiere sorgen dafür, dass auch an unzugänglichen Stellen einerseits das Gras auf der Hochalm nicht zu hoch wächst, was zu Hangrutschungen und im Winter Lawinenabgängen führt, und anderer-seits werden unerwünschte Pflanzen wie junge Bäume oder Unkräuter von ihnen samt der Wurzel entfernt. Dadurch verwaldet das Gebiet nicht vollends.   

Die ersten zweibeinigen Sommerfrischler übrigens brachte gegen 1866 Clemens Franz Xaver Reichsgraf von Westphalen nach Oetz. Inzwischen wird das Ötztal alljährlich in den Wintermonaten von Millionen Urlaubs-gästen geradezu überflutet (alleine in Sölden rund 2 Millionen Über-nachtungen). Noch mehr erwarteten sich die Touristiker im hinteren Ötztal durch die Seilbahnverbindung mit dem Pitztal – diese Verbindung allerdings wurde fallen gelassen. In einem Bürgerentscheid sprachen sich im Juli 2022 von 1.200 Einwohnern in St. Leonhard im Pitztal 50,4 % gegen das Projekt aus. Insgesamt kamen 59 % zu den Urnen. 

Die dortige Sprache (Bairisch vornehmlich beeinflusst durch das Passeier- und das Schnalsertal) gehört zum immateriellen Kulturerbe Österreichs.  

Transhumanz – der Zug der Schafe wurde im Jahr 2011 in die UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Wie lange es diese noch geben wird, ist jedoch fraglich. Immer mehr Weidegebiete fallen der Gewinnsucht der Wintertouristiker zum Opfer, neue Seilbahn- und Pisten-erschliessungen sorgen immer wieder für Kontroversen. Sollten Sie die Gelegenheit haben, den Zug der Schafe vorort mitzuverfolgen, so nutzen sie dies. Die Schnalser Gletscherbahnen ermöglichen es auch für die Nicht-Alpinisten! Selbstverständlich können Sie im nächsten Jahr zudem als freiwilliger Helfer aktiv werden. Dafür sollten Sie durchtrainiert, wetterfest und bergtauglich sein sowie sich mit Schafen auskennen. Die Eindrücke werden Sie Ihr Leben lang nicht vergessen!

Rückkehrtermine 2022:

– Niedertalalm am 10. September nach Vernagt

– Rofenbergalm am 11. September nach Kurzras

Infos:

.) www.merano-suedtirol.it/de/schnalstal/natur-kultur/land-leute/trans-humanz.html#ltseventslist

.) www.suedtirolerland.it/de/suedtirol/schnalstal/vernagt-am-see/

.) www.suedtirolerland.it/de/suedtirol/schnalstal/kurzras/

Filmtipps:

– Mit di Schoof gian; Sebastian Marseiller 

– Schafe und Schneefelder; Rolf Bickel

Lesetipps:

.) Pässe, Übergänge, Hospize; G. Bodini;  Tappeiner Verlag 1999 

.) Wege der Schafe: Die jahrtausendalte Hirtenkultur zwischen Südtirol und dem Ötztal; Hans Haid; Tyrolia-Verlag 2008

.) Schafe und Hirten im Vinschgau & Schnalstal; G. Bodini; Hrsg: Kultur-verein Schnals  2005 

.) Schafe in Tirol; Thomas Stoffaneller/Susanne Schaber; Tyrolia-Verlag 2016

.) Aufbruch in die Einsamkeit – 5000 Jahre überleben in den Alpen; Hans Haid; Ed. Tau 1992

.) Die Grundherrschaften des Tales Schnals in Untervinschgau; Franz Huter; Innsbruck 1926

.) Alpenvereinsführer Ötztaler Alpen; Walter Klier; Bergverlag Rother Ottobrunn 1997

Links:

– www.transhumanz.net

– www.kulturverein-schnals.it

– www.provitaalpina.com

– www.vent.at

– www.merano-suedtirol.it

– www.naturpark-oetztal.at

– www.timmelsjoch.com

– www.unesco.at

– similaun.net

– www.museen-suedtirol.it

– www.oetzi-dorf.at

– www.oetztal.com

– www.kulturnatur.de

– hoehepunkt-tirols.oetztal.com

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