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Remigration – schon wieder eine Erfindung aus Österreich?

Selten zuvor hat ein Begriff aus der Sozial- und Wirtschaftswissenschaft für eine derart kontroversielle Diskussion gesorgt: „Remigration“! Wie bei so vielen anderen auch politisierte das rechte Lager den Ausdruck und vereinnahmte diesen für sich. So wurde aus diesem das „Unwort des Jahres 2023“!

Der Begriff selbst ist schon einige Jahrhunderte alt. 1608 verwendete ihn Andrew Willet von der Church of England in seinen Schriften, 1885 Ernst Ravenstein in einem seiner Publikationen. Doch erst im 20. Jahrhundert wurde er genauer definiert. In seiner ursprünglichen Bedeutung bezeich-net „Remigration“ die Rückkehr eines Gastarbeiters bzw. eines Migranten in sein Herkunftsland – völlig frei von Emotionen oder politischem Hinter-gedanken. Schliesslich kehren viele Gastarbeiter nach einem zumeist harten Arbeitsleben in ihr Herkunftsland zurück, um dort ihren Ruhe-stand geniessen zu können. Oder im anderen Falle Russland- und Sudetendeutsche oder auch Deutsche aus Siebenbürgen werden in Deutschland remigriert! Auch viele der 3,4 Mio deutschen Auswanderer (2,7 Mio davon im erwerbstätigen Alter) kehren wieder in die Heimat zurück. So kamen schon im 19. Jahrhundert rund 10 % der zuvor in die USA ausgewanderten Deutschen wieder in ihr Heimatland zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es sehr viele Rückkehrer – einer der bekanntesten davon war Herbert Ernst Karl Frahm – Willy Brandt! 1933 emigrierte er über Dänemark nach Norwegen. Von der Nazi-Regierung in Berlin wurde er als staatenlos erklärt! Als das Land von den Deutschen okkupiert wurde, gelangte Brandt in Gefangenschaft. Allerdings trug er zum Zeitpunkt der Festnahme eine norwegische Uniform, zudem kannte niemand das Pseudonym „Willy Brandt“, das er sich erst in seiner Zeit in Norwegen zugelegt hatte. Er wurde wieder freigelassen und flüchtete nach Schweden, 1945 kehrte er nach Deutschland zurück und berichtete als Korrespondent für mehrere skandinavische Zeitungen über die Nürn-berger Kriegsverbrecher-Prozesse. Millionen Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter wurde remigriert. Ja – ich würde sogar auch jene heute Bundesdeutsche als Remigranten bezeichnen, die seinerzeit aus der DDR geflohen oder ausgewandert und nach dem Fall der Mauer wieder zurückgekehrt sind. In der Migrationssoziologie exisiert auch eine Weiterführung: „Remigration der zweiten Generation“.

Ich musste bei der Recherche zu diesem Blog alsdann gar nicht lange suchen und stiess auf den Beitrag „Remigration von Gastarbeitern – Eine Analyse mit nichtparametrischen Schätzverfahren“ von Beatrix Brecht und Paul Michels im Buch „Acta Demographica 1993“ (Physica Verlag 1994). Eine wertefreie Studie, die auf den Zahlen vergangener Jahre aufbaut. Zwanzig Jahre zuvor hatte schon der italienische Soziologe Francesco P. Cerase eine Studie zur Remigration italienischer Auswanderer aus den USA erstellt. Seine auch heute noch gültige Typisierung unterscheidet zwischen einer „Rückkehr aus Konservatismus“ (der Betroffene bewahrt sich seine Identität und Heimatkultur) und „Rückkehr zur Innovation“ (Ideen aus dem anderen Land sollen in der Heimat umgesetzt werden). Oft können auch sog. „Pushfaktoren“ dahinter stecken: Heimweh, gesundheitliche Probleme, Diskriminierung bzw. Rassismus. Oder auch „Pullfaktoren“ wie soziale oder familiäre Bande.

Über 30 Jahre hinweg stellte der Terminus der „Remigration“ kein Problem dar. Dann aber kam es am 25. November des Jahres 2023 zu einem Geheimtreffen in einem Landhaus in der Nähe von Potsdam. Organisiert von einem ehemaligen Zahnarzt aus Düsseldorf, trafen sich dort vornehmlich rechtsextreme Vertreter, aber auch der Sprecher der AfD-Bundestagsabgeordneten Alice Weidel und zwei Politiker der Werteunion der CDU. Hauptredner des Abends war Martin Sellner, der in Österreich als Kopf der „Identitären Bewegung“ unter Beobachtung des Verfassungsschutzes steht. Er stellte dabei sein „Strategiekonzept im Sinne eines Masterplans“ vor. Dessen Kern: Die Remigration von Millionen Menschen aus Deutschland und Österreich! Massenabschiebungen nicht nur von Ausländern, sondern auch von Deutschen und Österreichern, um damit den angeblich durch die Eliten geplanten „Bevölkerungsausstausch“ wieder rückgängig zu machen. Die Teilnehmer an dieser illustren Runde mussten eine „Mindestspende“ von 5.000,- € berappen. Sellners Ideologie: Beide Worte („Bevölkerungsaustausch“ und „Remigration“) müssen in die Mitte der Gesellschaft gebracht werden. Unnütz zu betonen, dass beides gegen das Grundrecht/die Verfassung und die Menschenrechtskonvention der UN verstösst! Schliesslich würde es ja auch Menschen mit Migrationshintergrund treffen, die eine deutsche oder österreichische Staatsbürgerschaft besitzen und sich perfekt in die Gemeinschaft integriert haben!

In früheren Zeiten wurden sie auf eine ferne Insel verbannt oder als vogelfrei zum Abschuss freigegeben, heutzutage ist es gar nicht mal so einfach. So müsste ihnen die Staatsbürgerschaft aberkannt und sie als staatenlos erklärt werden! Nein – das geht gar nicht: Die beiden Staaten würden dann selbst einen Flüchtlingsstrom verursachen! Dazu zwei Zahlen: 2022 lebten nicht weniger als 23,8 Mio Menschen mit Migrationshintergrund zwischen Flensburg und Berchtesgaden, 12,2 Mio allerdings waren deutsche Staatsbürger! Für sie wäre das Wort „Abschiebung“ nicht der richtige Ausdruck – „Vertreibung“ oder das historisch vorbelastete „Deportation“ wären ja dann wohl passender. Wer deutscher oder österreichischer Staatsbürger wird, plant jedoch zumeist auch sein Leben in einem der beiden Ländern zu absolvieren.

Übrigens wurde „Remigration“ bereits vor dem Treffen durch Mitglieder der AfD (etwa MdB Gottfried Curio und MdEP Irmhild Boßdorf), aber auch dem Vorsitzenden der österreichischen FPÖ, Herbert Kickl, verwendet. Die FPÖ forderte im Juni des Jahres gar einen eigenen EU-Remigrations-kommissar. Allerdings distanzierte sich die AfD von diesem November-Treffen – Weidels Sprecher habe nicht gewusst, wer zu der Zusammen-kunft alles geladen war. Dennoch reichte es etwa der französischen Gallionsfigur des Rassemblements National (RN), Marine Le Pen, sich nach dem zusätzlichen SS-Sagers des AfD-Spitzenkandidaten zur EU-Wahl, Wolfgang Krah, von den deutschen Rechtspopulisten zu distanzieren. Interessant dabei ist jedoch, dass auch Herbert Kickl bereits im Jahr 2010 einen ähnlichen Spruch in einem ATV-Interview von sich gab, der jedoch ohne Konsequenzen blieb. Auch verwendete der thüringische Parteichef Björn Höcke 2018 den Terminus eines „grossangelegten Remigrattions-projektes“.

Der Rechtsradikalismus marschiert inzwischen wieder ideel und sprach-lich in die Vergangenheit zurück („Kampfbegriffe“). So wird in diesem Zusammenhang von „Passdeutschen“ und „Biodeutschen“ unterschieden, auch von „Verabschiedungskultur“ ist die Rede. „Remigrationspläne“ übrigens wurden bereits in der Vergangenheit (1940) veröffentlicht. Auch Donald Trump schliesst sich dieser Ausdrucksweise an, nachdem er meinte, dass Migranten „das Blut der USA vergiften“ würden. Martin Sellner übrigens prägte zudem den Begriff der „ethnokulturellen Iden-tität“. Dieser setzt allerdings eine Leitkultur voraus, die nicht näher ausgeführt wird. So ganz nebenbei erwähnt: In der AfD selbst bzw. deren näherem Umfeld sind nicht wenige „Passdeutsche“ vorhanden.

Übrigens zum Schluss meiner heutigen Gedanken noch eine Begriffs-bestimmung: Das lateinische „remigrare“ ist ein aktives Verb. Soll heissen, dass jemand nur selbst zurückkehren oder -wandern kann! Wird er dazu gezwungen, so ist die Remigration im Sinne des lateinischen Ursprungswortes grammatikalisch falsch!

Lesetipps:

.) Acta Demographica 1993; Hrsg.: Heinz Galler/Gerhard Heilig/Gunter Steinmann; Physica Verlag 1994

.) Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 4 – Bundesrepublik und DDR 1949–1990; Hrsg.: Hans-Ulrich Wehler; C.H. Beck 2008

.) Vertriebene Eliten. Vertreibung und Verfolgung von Führungsschichten im 20. Jahrhundert; Hrsg.: Günther Schulz; Oldenbourg 2001

.) Exil und Remigration; Hrsg.: Claus-Dieter Krohn; edition text + kritik 1991

.) Remigration und Demokratie in der Bundesrepublik nach 1945. Ordnungsvorstellungen zu Staat und Verwaltung im transatlantischen Transfer; Margrit Seckelmann/Johannes Platz; Transcript 2017

.) Handbook of return migration; Hrsg.: Russell King/Latie Kuschminder; Edward Elgar Publishing 2022

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