Biogas – tatsächlich eine Furz-Idee???

Deutschland verbrauchte im Jahr 2020 nicht weniger als 86,5 Milliarden Kubikmeter Erdgas. Mehr als die Hälfte davon kamen via Pipeline aus Russland, gefolgt von Norwegen und den Niederlanden. Österreich ver-brannte im selben Jahr 8,5 Milliarden Kubikmeter, die Schweiz 3,2. Während bei den Eidgenossen nur rund 35 % aus russischer Förderung stammen (der Rest aus der EU und Norwegen), sind es in Österreich 56 % (nur 12-13 % aus Norwegen und Deutschland).
Angesichts des derzeitigen von Russland angezettelten Krieges gegen die Ukraine mehr als bedenkliche Zahlen. Das Ostsee-Pipeline-Projekt Nord Stream 2 wurde durch den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz erst mal eingefroren. Viele Kritiker (wie die USA) bezeichnen es als fahrlässig, sich derart von nur einem Lieferanten abhängig zu machen! Stimmt zu einem gewissen Anteil. Andererseits versuchen selbstverständlich die Ameri-kaner das wesentlich teurere Fracking-Gas an den gutzahlenden Herrn Müller oder Frau Schmidt zu bekommen. Also sind Ideen gefragt. Eine dieser Ideen wäre sicherlich das Biogas!
Biogas entsteht mit Hilfe von Bakterien bei der Vergärung von pflanz-lichen und tierischen Überresten (Gülle, Bioabfälle, Energiepflanzen,…) – unter Luftabschluss (anaerobes Milieu) in sog. „Fermentern“. Zurück bleibt ein hochwertiges Düngemittel mit einer Vielzahl an Nähr- und humusbildenden Stoffen. Das entstehende Gas beinhaltet neben 25 % CO2 auch zwischen 40-75 % Methan (beim Erdgas sind es 80-90 %) – abhängig vom Oxidationsgrad der verwendeten Substrate. Dieses wird zur Strom- oder Wärmegewinnung verwendet. Daneben kann es auch aufbereitet in das Erdgas-Netz eingespeist werden. Zumeist geschieht diese Produktion nicht in einem grossen Biogas-Kraftwerk sondern direkt bei den Produzenten: Auf den Bauernhöfen. Eine durchschnittliche Anlage bringt eine Kapazität von 600 kW. In Österreich sind derzeit rund 350 Biogas-Anlagen im Einsatz. Sie erzeugen jährlich in etwa 150 Mio Kubik-meter Biogas (rund 2 % des jährlichen Gasbedarfs). In Deutschland sind es rund 9.700, in der Schweiz 30.
Biogas ist die drittwichtigste erneuerbare Energieform in Deutschland – nach der Wasserkraft und der Photovoltaik. 2019 wurden 8,1 Milliarden Euro mit der Produktion und Verwertung von Biogas in Deutschland umgesetzt, zwischen Flensburg und Berchtesgaden im Jahr 2020 5,2 % des verbrauchten Stroms aus Biogasanlagen gewonnen. Alleine in Niedersachsen beläuft sich die Biogaskapazität auf 1,4 Gigawatt, deutschlandweit sind dies 5,6 GW. Klar – bei einer Stromproduktion von 30 Terrawattstunden sind dies vernichtend geringe Zahlen!
Die anderen Bestandteile (neben Methan und CO2) sind Stickstoff N2 (0-7 %), Sauerstoff O2 (0-2 %), Wasserstoff H2 (0-1 %) und Schwefelwasserstoff H2S (0-1 %). Inzwischen sucht neben anderen auch die Technische Universität Graz im „Projekt Biogas 2H2“ nach einer Möglichkeit, aus der Biomasse Wasserstoff H2 zu extrahieren, der für den Antrieb von Brennstoffzellen dienen könnte. Ansonsten muss dieser sehr energie-aufwendig gewonnen werden.
Am interessantesten jedoch bleibt die Herstellung von Biomethan. Ein Kubikmeter Methan hat einen Energiegehalt von 9,97 kWh. Umgerechnet auf einen Methananteil von 60 % bei Biogas entspricht dies einem Energiegehalt von 6 kWh pro Kubikmeter (rund 0,6 l Heizöl).
In Blockheizkraftwerken erfolgt die Stromgewinnung. Leider wird in den meisten Fällen die Abwärme noch nicht zur Heizung von Gebäuden genutzt. Dadurch geht rund 2/3 der enthaltenen Energie verloren. Eine vorbildhaft geführte 190 kWh-Biogasanlage produziert rund 1,5 Mio kWh Strom und speist zudem 350.000 kWh Wärme in das Wärmenetz einer Gemeinde ein. Dadurch können 430 Haushalte mit Strom und 30 Haushalte mit Wärmeenergie beliefert werden. Hochgerechnet auf den CO2-Ausstoss ergibt sich gegenüber der Verwendung fossiler Treibstoffe (1.100 to CO2) eine Einsparung von zirka 650 to pro Jahr – dabei eingerechnet ist übrigens auch der Bau der Anlage!
Bei den Gasanbietern kann der Biogas-Anteil selbst gewählt werden. So erzeugt beispielsweise die Biogas-Aufbereitungsanlage Wien-Simmering pro Jahr über eine Million Kubikmeter Biomethan aus zirka 22.000 Tonnen biogenem Küchenabfall und speist dies in das Gasnetz ein. Aus 1,3 kg biogenen Hausabfällen lässt sich 1 kWh Strom gewinnen. Damit können 900 Haushalte der österreichischen Bundeshauptstadt umwelt-freundlich versorgt werden. Somit verringert sich der Ausstoss von CO2 um jährlich mehr als 3.000 Tonnen. Auch im schweizerischen Freiburg wird weitergedacht. Gemeinsam mit dem Projekt E Celsius nutzt die Stadt das durch die Klärschlammvergärung entstehende Gas nach erfolgter Aufbereitung zur Einspeisung in das städtische Gasnetz. 17.000 Kubikmeter Abwasser strömen täglich in die Kläranlagen der Stadt. Daraus entstehen jährlich 10 GWh Energie (gegengerechnet etwa 1 Mio Liter Heizöl). Damit ist der Wärmebedarf von 1.000 Einfamilienhäusern gedeckt.
Biomethan gelangt aber auch bei Gasmotoren zum Einsatz. So kann umgerechnet mit einer Tonne Grüngut ca. 1.000 Kilometer weit gefahren werden. Wurde der Methangehalt auf 98 % aufbereitet, so kann auch ein gasbetriebenes Fahrzeug ohne Folgen oder Problemen damit betankt werden. Dies reduziert den CO2-Ausstoss um bis zu 90 % und hilft alsdann beim Sparen auf jedem gefahrenen Kilometer. Biomethan kann zudem verflüssigt werden – man spricht dann von „LNG“ (Liquid Natural Gas). Damit werden LKW und Schiffe betankt und betrieben. Eine solche Aufbereitungsanlage steht neben 200 anderen in Deutschland in Pliening bei München.
Bei all diesen positiven Aspekten sollten aber auch objektiverweise die negativen nicht ausser Acht gelassen werden. So produzieren zusehends mehr Ackerbauern Mais oder Futterrüben (Energiepflanzen) nur für die Vergärung zu Biogas. Zur Zeit auf über 2 Mio Hektar Ackerland (1/5 des Gesamtackerlandes) – alleine in Deutschland. Durch Monokulturen verödet die Landschaft, Schädlinge oder Klima-Veränderungen können grossen Schaden anrichten (zur Resistentmachung gelangt die Genmanipulation zum Einsatz), der Boden wird ausgelaugt. Mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz aus dem Jahr 2014 versuchte die deutsche Bundesregierung dem entgegenzutreten. So erhalten seither grosse Betriebe nurmehr die Grundvergütung für die Stromeinspeisung, die Subventionen für Energiepflanzen wurden gänzlich gestrichen. Nurmehr Klein-Anbieter bis 75 kWh erhalten eine hohe Einspeisevergütung. Die Verwendung von Energiepflanzen sollte gänzlich verboten werden, da die Ernährung der Bevölkerung (v.a. fernab der grossen internationalen Lieferketten) immer mehr zum Problem wird (die derzeitigen Weizenpreise sprechen wohl Bände!). Nahrungsmittel sollten stets den Vorrang gegenüber Antriebsmitteln haben! Schliesslich gibt es genügend Küchenabfälle, Rückstände aus der Bier- und Weinproduktion (Treber), aus der Saftproduktion (Trester), Ernterückstände (Pflanzenblätter etwa) oder auch Molkerei- und Schlachtereiabfälle, Gülle oder Klärschlamm, die dafür eingesetzt werden kann. Apropos Gülle: Derzeit werden nur rund 1/4 der in Deutschland entstehenden tierischen Exkremente in Biogas-Anlagen vergärt – der Rest landet entweder auf den Ackern und Feldern, wo sie für eine übermässige Nitratbelastung des Grundwassers sorgt, oder wird in andere Staaten exportiert.
Daneben bestehen auch einige Gefahren, die von derartigen Biogas-Anlagen ausgehen. So entstehen hochentzündliche und extrem klima-schädliche Gase, die durch ein Leck leicht in die Umwelt abgegeben oder im Brandfall gar zu einer verheerenden Verpuffung führen können. Daneben bilden die Substrate, Gülle und Gärreste eine erhebliche Gefahr für Grund- und Fliesswasser. Schon mehrfach wurde schlichtweg ein Ventil bei einer Zuführungs- oder Ablassstelle nicht geschlossen, wodurch das Leben in Bächen oder Flüssen vernichtet wurde. Deshalb unterliegen Biogas-Anlagen strengen gesetzlichen Richtlinien und Kontrollen. Doch so sicher auch die Technik sein mag – menschliches Versagen kann niemals ausgeschlossen werden.
Nachdem bereits von ernst zu nehmenden Ökonomen mit einer Verdoppelung des derzeitigen Gaspreises bis kommendes Jahr gerechnet wird, wäre die Umstellung auf Biogas durchaus erstrebenswert. Es ist nicht nur klimaneutral und das ganze Jahr über verfügbar, sondern bietet auch die Möglichkeit, das Geld wertschöpfend in der eigenen Region zu belassen anstatt es nach Russland zu schicken. Ihrer Gastherme übrigens ist es völlig gleichgültig, ob Erdgas oder aufbereitetes Biogas verwendet wird.

Lesetipps:

.) Biogas-Praxis. Grundlagen, Planung, Anlagenbau, Beispiele; Heinz Schulz/Barbara Eder; Ökobuch 2005
,) Vom Bauern zum Energielieferant. Die Zukunft des Energiewirt; Martin Stroh; Landwirtschaftsverlag 2000
.) Energie aus Biomasse. Grundlagen, Techniken und Verfahren; Hrsg.: Martin Kaltschmitt/Hans Hartmann/Hermann Hofbauer; Springer 209
.) Kraftwerk Wiese Strom und Wärme aus Gras;Walter Graf; Books on Demand 1999

Links:

– www.biogas.org
– www.dbfz.de
– biogas.fnr.de
– www.ergar.org
– www.umweltbundesamt.de
– www.klimaaktiv.at
– www.gruenes-gas.at
– task37.ieabioenergy.com
– www.chemie.de
– www.aee.at
– gazenergie.ch
– oekostrom.at
– www.energieag.at
– gazenergie.ch
– www.biogas-netzeinspeisung.at

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Krieg in Europa

„Von wem in Gottes Namen glaubt Putin das Recht erhalten zu haben, neue Staaten auszurufen auf Gebieten, die seinem Nachbarn gehören!“
(Joe Biden, US-Präsident)

Es ist geschehen! Der russische Staatspräsident Wladimir Putin hat mit der Invasion in der Ukraine begonnen. Seine Rechtfertigung: Selbst-verteidigung, Schutz der russisch-stämmigen Menschen in der Ost-ukraine, Friedensschaffung in den Gebieten Donezk und Luhansk und die Entnazifizierung der ukrainischen Regierung in Kiew.
Noch vor wenigen Tagen war aus dem Kreml zu vernehmen, kein militärisches Eingreifen in der Ukraine zu planen. Wie auch damals bei der Halbinsel Krim und der Ostukraine hat sich jedoch erneut heraus-gestellt, dass diese Zusagen das Billig-Papier nicht wert waren, auf dem diese Aussagen gedruckt wurden. Putin hat wie schon so oft, sein Wort gebrochen. Möglicherweise da er einen Gesichtsverlust in Russland selbst befürchtet. Die Medien dort sind allesamt staatlich geführt, die wenigen unabhängigen haben keine Bedeutung. Damit erfährt die russische Bevölkerung auch nur eine Version der Situation, kann sich nicht über mehrere Kanäle informieren und selbst eine Meinung bilden. Umso erstaunlicher und lobenswerter, ja heroischer sind die Demonstranten, die dennoch in Russland auf die Strassen gehen um gegen den Krieg zu protestieren – auch wenn sie dafür festgenommen und für unbestimmte Zeit in einem der vielen Gefängnisse verschwinden werden. Zuletzt waren es in 44 Städten tausende Menschen – 1700 wurden festgenommen.
Putin will als starker Mann verstanden werden, der Russland von seinen Feinden befreit und die einstige Sowjetunion wiedervereint (er bezeichnet die Auflösung der Sowjetunion nach wie vor als „„größte geopolitische Katastrophe“ des Jahrhunderts“). Will er damit möglicherweise der immer stärker werdenden Opposition den Wind aus den Segeln nehmen? Der inhaftierte Regime-Gegner Alexei Anatoljewitsch Nawalny liess verlauten, dass er sich gegen diesen Krieg ausspricht! Nachdem sich die Duma für die Anerkennung der beiden sogenannten „Ostukrainischen Volks-republiken“ und den militärischen Einsatz im Nachbarstaat aussprach und dies mit Applaus verabschiedete, könnte Nawalny die einzige wichtige und beachtete Gegenstimme sein – das wird ihn sicherlich nicht zu einer vorzeitigen Begnadigung verhelfen.
Putin wurde durch seine Entscheidung zum Aggressor, zum Despot, zum Kriegsverbrecher, der sich nicht davor scheut, seine Interessen mit Waffengewalt auch in anderen Staaten durchzusetzen.

„…, da der russische Präsident sich für Krieg entschieden hat.“
(Emmanuel Macron, franz. Staatspräsident)

Ich gehe gar noch einen Schritt weiter: Putin rechtfertigt damit die durch die USA unterstützte, jedoch misslungene Invasion Kubas in der Schweinebucht am 17. April 1961, als Exilkubaner mit Hilfe der CIA versuchten, die Insel zu übernehmen. Die USA befürchteten damals durch die Aufrüstung Fidel Castros mit massiver sowjetischer Hilfe ebenfalls einen Angriff auf ihr Land.
Der Angriff Russlands konzentriert sich nicht auf die beiden Problem-regionen sondern betrifft militärische Stützpunkte im ganzen Land. Damit ist das Argument der Friedensstiftung und des Schutzes der russisch-stämmigen Bevölkerung hanebüchen – an den Haaren herbeigezogen. Dieser Krieg wird viele, auch zivile Menschenleben kosten, ein mög-licherweise derart aufgebauter Frieden ein blutiges Fundament haben.
Das Argument der Selbstverteidigung hat sich ebenfalls erledigt, schliesslich verstärkt die NATO ihre Truppen in Polen und den baltischen Staaten massivst. Nun kann er sozusagen den Atem der Nordatlantik-paktes direkt im Genick spüren.
Die Ukraine ist dem „falschverstandenen Friedensstifter“ ohnedies ein Dorn im Auge. Bereits die Land-Gaspipeline durch die Ukraine nach Europa sorgte für zahlreiche Konflikte. Daneben zeigte sich Putin schon mehrfach als Anhänger Zar Alexanders III. So weihte er 2017 auf der drei Jahre zuvor annektierten ukrainischen Halbinsel Krim eine grosse Statue seines Vorbildes ein. Dabei sprach er von „einer Epoche nationaler Wiedergeburt“ als der von 1881 bis 1894 regierende Zar die Schwarz-meerflotte aufbaute und deren Stützpunkt auf der Krim festlegte. Alexander III. war es auch, der den Ausnahmezustand in der Ukraine ausrief, dort mit autokratischer Härte durchgriff und eine ukrainische Sprache, Geschichte und Staatlichkeit verboten hatte. Schon 2008 betonte Putin gegenüber George W. Bush, dass die Ukraine kein eigener Staat wäre. Er scheute sich auch in den Staatsmedien nicht davor, dies bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu wiederholen, sodass es Boris und auch Olga vom Lande nicht anders kennen. Dem jedoch widersprechen viele Experten und vor allem die Geschichte. So betont beispielsweise der Osteuropahistoriker Andreas Kappeler in seinem Buch „Kleine Geschichte der Ukraine“, dass sich die Ukraine jahrhundertelang eigenständig entwickelt habe. Der emeritierte Professor mit Lehrauftrag in Köln und Wien weist aufgrund der Sprache, Literatur und Staatlichkeit eine unter-schiedliche geschichtliche Entwicklung zwischen Russland und der Ukraine nach. Das Kiewer Reich wurde durch skandinavische Wikinger gegründet und bestand aus einem Verband von Fürstentümern, dem neben Kiew auch Minsk, Nowgorod und Smolensk angehörten. Kappeler zählt deshalb die Ukraine als ein Teil zu Polen-Litauen, während Moskau ursprünglich Teil des Mongolenreichs war. Deshalb entwickelte sich die Ukraine in der Geschichte zusehends in Richtung Westen, das Herr-schaftsideal in Richtung der französischen Revolution: Liberté, Egalité, Fraternité (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit). Moskau hingegen schottete sich ab, Russland wurde stets zentralistisch und autokratisch regiert. Putins Ansprache zur Annexion der Krim analysiert Kappeler in einem eigenen Kapitel seines Buches. Sein Resumee: „Falsche Behauptungen und Verdrehungen“! Historisch alleiniger Anspruch auf die Krim hätten alsdann die muslimischen Krimtataren!
Boris Jelzin, der Vorgänger Putins, war diesbezüglich wesentlich auf-geschlossener und moderner. Er hatte eine Kommission eingesetzt, die sich der tatsächlichen „nationalen Idee“ widmen sollte. Unter Putin hingegen wurde vieles der durch Michail Gorbatschow eingeleiteten Perestroika zugunsten des zaristischen, autokratischen Führungsstiles eingefroren.
Die Maidan-Revolution in der Ukraine brachte das Fass des Ex-KGB-Offiziers zum Überlaufen. Russland geht – ebenso wie die Sowjetunion damals – wirtschaftlich den Bach runter. Es droht der Abstieg von der Weltmacht zur Lächerlichkeit. Armut in grossen Teilen der Bevölkerung – der Kampf ums Brot gilt grundsätzlich als Auslöser der meisten Revolutionen. Maidan in Moskau – ein Schreckensbild, das der Autokrat mit allen Mitteln seit seinem Machtantritt zu verhindern versucht. Putins Ideale finden sich in einer zaristischen Grossmacht, die auf diesem Globus das letzte Wort zu sagen hat.

„Das, was wir uns in 1.000 Jahren erarbeitet haben, war zu einem bedeutenden Teil verloren!“
(Wladimir Putin zum 30. Jahrestag des Zusammenbruchs der UdSSR)

Obgleich der Diktator nach wie vor den Mitgliedsausweis der KPdSU besitzt, sind es wohl mehr die Ideale der Zarenzeit, die ihn faszinieren als jene des Kommunismus. Schliesslich müsste er ansonsten die ihm wohlgesonnenen, urkapitalistisch agierenden Oligarchen und seinen Palast am Schwarzen Meer (Kap Idokopas), seine Konten im Ausland etc. rechtfertigen.
Putin rief zuletzt die ukrainische Armee dazu auf, ihre eigene Regierung zu stürzen. Mit seiner Entscheidung zur Invasion in der Ukraine, hat sich Putin in die Liste der Kriegsverbrecher Im 20./21. Jahrhundert in Europa eingeordnet. Ob die Gesellschaft neben Hitler und Milošević erstrebens-wert ist, sei dahingestellt.
Mehr möchte ich heute gar nicht in die Materie einsteigen – die Lage ändert sich nicht nur von Tag zu Tag, sondern von Stunde auf Stunde. Nur möchte ich mit einer Überlegung schliessen, die wohl alles auf den Punkt bringt:
Michail Gorbatschow stand das Wasser bis zum Halse. Er machte das einzig richtige: Er zog die Reissleine. Aus dem erwarteten Chaos durch die Auflösung des Vielvölkerstaates Sowjetunion und des Ostblocks entstand eine Vielzahl an Nationalstaaten, die sich selbst entwickeln konnten – viele davon im Frieden, einige im Krieg. Doch Gorbatschow rettete Russland! Putin hingegen versucht, die Uhr mit aller Gewalt imperialistisch zurück zu drehen. Weit entfernt von Glasnost! Sei es beim Krieg in Georgien 2008 oder bei der Intervention in Tschetschenien 1999 bzw. jetzt in der Ukraine. Aber auch im Ausland: Syrien, Libyen, …! Nahezu überall wo Putin draufsteht, ist auch Putin drin: Waffengewalt und Krieg! Friedensstifter?
Wie lange hält ein Frieden, der mit Waffen erwirkt wurde?!

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Telegram – rechts, rechtens oder nicht, das ist hier die Frage

„Wir unterstützen die Meinungsfreiheit und den friedlichen Protest, aber Terrorismus und Gewaltpropaganda haben bei Telegram keinen Platz!“
(Ein Repräsentant von Telegram 2019)

Viele von uns – so auch ich – konnten bis vor einigen Monaten nicht wirklich viel mit „Telegram“ anfangen. Social Medias und wie in diesem Falle auch Messengerdienste gibt es derer viele – man kann sie gar nicht mehr alle kennen, geschweige denn nutzen. Erst aufgrund der Demo-kratiebewegungen in Belarus und dem Iran, aber auch als die vielen Verschwörungstheoretiker und Rechtsradikalen auf den gängigen Platt-formen gesperrt oder gelöscht wurden, kam Telegram ins Spiel. Was steckt nun wirklich dahinter?
Telegram wurde durch die beiden Brüder Nikolai und Pawel Durov in Russland gegründet. Bereits zuvor versuchten sie, mit VK.com ein Gegenstück zu Facebook auf die Beine zu stellen. Pawel Durov befindet sich mitsamt seines Kernteams inzwischen in Dubai/Vereinigte Arabische Emirate (VAE). Auf Telegram konnten bislang zumeist ungestört bzw. unkommentiert Nachrichten versandt werden, die in manchen Fällen zur Gänze gegen bestehendes Recht in Deutschland und auch Österreich verstossen: Aufrufe zur Gewalt, zum Verstoss gegen Gesetze, Beleidigungen, Hassrede, Volksverhetzung und gar Morddrohungen! Während andere Plattformen wie Facebook, Twitter, WhatsApp etc. an regionale Gesetze gebunden sind und derartige Posts löschen müssen (Netzwerkdurchsetzungsgesetzes NetzDG in Deutschland bzw. Kommunikationsplattformen-Gesetz KoPl-G in Österreich), unterliess dies Telegram trotz mehrfacher Aufforderung und auch Geldstrafen! Viele der User veröffentlichten ihre Nachrichten vornehmlich in Einzel- und Gruppenchats, einige gar auch in den öffentlich einsehbaren Kanälen. Die meisten unter ihrem realen Namen mit Bild – nicht mal mit einem Nick-name.
Obwohl Europol bereits 2019 mit Telegram zusammenarbeitete (Löschung dschihadistischer Propaganda) dauerte dies in Deutschland wesentlich länger. Nach einem ersten Gespräch Anfang Februar 2022 kam es am 10. desselben Monats zu einem zweiten Arbeits-Austausch der deutschen Bundesregierung und dem Unternehmen via Video-Konferenz, an dem Pawel Durov auch persönlich teilnahm. Erstmals hat schliesslich das Unternehmen auf Ersuchen des deutschen Bundes-kriminalamtes 64 Kanäle gesperrt, darunter sieben des seit Februar 2021 mit Haftbefehl gesuchten Ex-Vegan-Kochs Attila Hildmann, der sich in der Türkei versteckt halten soll. Er nutzte Telegram vornehmlich zur Verbreitung seiner wirren Verschwörungstheorien an rund 100.000 Abonnenten. Auch einige antisemitische Hetzer sollen sich hinter den geschlossenen Accounts befunden haben.

„Telegram darf nicht länger ein Brandbeschleuniger für Rechts-extreme, Verschwörungsideologen und andere Hetzer sein. Mord-drohungen und andere gefährliche Hassposts müssen gelöscht werden und deutliche strafrechtliche Konsequenzen haben.“
(Bundesinnenministerin Nancy Faeser)

Viele unter Ihnen werden sich nun denken: Dann sperrt diesen Dienst einfach für Deutschland, die Schweiz und auch Österreich! Wie es Herr Erdogan in der Türkei u.a. mit YouTube vorexerziert hat. Nun – ganz so einfach ist das wiederum auch nicht, gehen doch dann die derzeit demonstrierenden und auf ihre Rechte pochenden Menschen erst recht auf die Strasse um die Meinungsfreiheit einzufordern. Jene Freiheit also, die in derartigen Vereinigungen selbst meist schamlos unterdrückt wird. Zudem hat dies Russland auch schon versucht. Telegram verlagerte daraufhin seine Dienste auf Server von Amazon.
Also mussten andere Wege gefunden werden. Doch einfach war dies scheinbar nicht: An wen und welche Adresse sollte ein Bussgeldbescheid gegen das Unternehmen zugestellt werden? Zwei Bussgeldverfahren sind bereits im Mai 2021 als Verbalnote durch die deutsche Botschaft an das VAE-Aussenministerium übergeben worden. Das Rechtshilfeverfahren konnte bislang noch nicht abgeschlossen werden, die beiden Bussgeld-verfahren befinden sich deshalb noch im Stadium der Anhörung. Schliesslich gelang es doch – wenn auch mit der Hilfe des Apple-Konzerns. Und die angedrohten Bussgelder in der Höhe von 55 Mio Euro dürften auch den Brüdern Durov zu hoch gewesen sein.
Der Messengerdienst steht schon seit geraumer Zeit unter Beobachtung des Verfassungsschutzes. Das Ganze als „Spinnereien“ verharmlosen zu wollen, wäre nicht nur der falsche Weg, sondern auch eine sträfliche Vernachlässigung und Missachtung der Gesetze. So wurde beispielsweise im Dezember dazu aufgerufen, den Ministerpräsidenten Sachsens, Michael Kretschmer (CDU) für seine Politik in Sachen Corona töten zu wollen. Dies beklagt auch das Bundeskriminalamt in Berlin: Der Ton würde immer aggressiver! So werden beispielsweise Politiker, die in den entsprechenden Parlamenten für die Impfpflicht votierten, als „Volks-verräter“ bezeichnet, die „ihre Quittung kriegen“ werden. In Österreich ist auf Telegram von einem „zweijährigen Faschismus“ die Rede, „der Umbau wird im Hintergrund weiter vollzogen“! In einer anderen Nachricht ist das Gesicht des Bundespräsidenten Alexander van der Bellen mit einem Fadenkreuz versehen worden. Auch in der Schweiz werden offiziell Hass-nachrichten gegen Politiker, wie den Gesundheitsminister Alain Berset („Der Massenmörder gehört öffentlich hingerichtet!“) oder Medien-schaffenden („Vielleicht sollte man mal die TV-Studios abfackeln und den Moderatoren die Fresse polieren!“) gepostet.

„Bei Telegram muss der Staat schnell reagieren!“
(Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD))

Klar – wie auch anderswo auf dem Datenhighway ist es im Vergleich eine Minderheit, die das Medium zur Radikalisierung nutzt. Daneben sollten aber auch die Verschwörungstheoretiker berücksichtigt werden, deren Meldungen teilweise wie Auszüge aus den Tagebüchern von Geistes-kranken zu lesen sind. Ach ja – und schliesslich gibt es noch jene, die Tipps und Kontakte suchen: Wie kann die Impfpflicht umgangen werden, wer stellt gefälschte Impfpässe oder Atteste aus etc. Übrigens wird vermehrt ernsthaft dazu geraten, obdachlos zu werden, zumindest für den Staat!
Obgleich all die Möglichkeiten mehr als bedenklich sind, geht es der Exekutive wie etwa dem BKA, um die Verhinderung von Straftaten, von Volksverhetzung und Fehlinformation. So nutzt beispielsweise die Quer-denker-Szene Telegram zur Vernetzung. Auch diese Bewegung steht schon seit Monaten unter Beobachtung des Verfassungsschutzes. Unter ihnen befinden sich viele gewaltbereite, zumeist rechtsradikale Mit-glieder, die sich über die unterschiedlichsten Chats auch für Übergriffe bei Demonstrationen an der Polizei verabreden. Die Morddrohungen gegen Kretschmer kamen ebenso aus dieser Bewegung wie auch die Fackelaufmärsche vor dem Haus der Ministerpräsidentin Mecklenburg-Vorpommerns, Manuela Schwesig (SPD). Tatsächlich sind es erschreckend viele Personen, die erreicht werden. So soll beispielsweise die Splitter-gruppe „Querdenken 711“ rund 60.000 User erreichen. Im Frühjahr 2020 von Michael Ballweg gegründet, bezeichnet sie sich auf ihrer Website als „friedliche Bewegung, in der Extremismus, Gewalt, Antisemitismus und menschenverachtendes Gedankengut keinen Platz hat“. Ballweg selbst hat den Slogan von QAnon zitiert, ein Naheverhältnis zu Reichsbürgern und Querdenken 341, die wiederum in Verbindung mit Rechtsextremen steht. Er und auch seine Bewegung Querdenken 711 wurden auf Facebook im September 2021 gesperrt.
Wie nun funktioniert Telegram? Jedes Mitglied einer Chatgruppe kann seine Meinung vielfach ungefiltert durch die Moderatoren der Gruppe kundtun. Die durch Facebook und Twitter bekannten Likes werden als Push-Nachrichten auf das Handy des Autors weitergegeben. So manch Einer fühlt sich dadurch bestätigt und vergreift sich bei seiner Sucht nach möglichst vielen dieser Push-Nachrichten auch mal in seinem Ton, der mit der bekannten „Netiquette“ bzw. im Extremfall den Strafgesetzen nicht mehr vereinbar ist.

„Ich bin sicher, man kann auch sie gesund ficken. Aber zuerst entlausen und lange duschen lassen…!“
(Nachricht über eine Gegendemonstrantin nach einer Anti-Massnahmen-Demo)

Allerdings können derartige Beiträge ganz simpel mittels Knopfdruck geteilt werden, wodurch viele eine geschlossene Gruppe verlassen. Seit dem 01. Februar 2022 müssen die Betreiber von Plattformen rechts-widrige Inhalte aus dem Bereich der „Hasskriminalität“ nicht nur löschen sondern auch an das deutsche Bundeskriminalamt melden (Netzwerk-durchsetzungsgesetz). Die Durov-Brüder betonten bislang stets, dass Telegram keine Plattform, sondern vielmehr ein Messengerdienst wäre – ähnlich wie WhatsApp. Stellt sich jedoch die Frage, weshalb Facebook, Twitter usw. Posts auch aus den Chats melden sollen, wenn sich Telegram nicht daran hält. Facebook und Co. dienen als Plattformen der öffentlichen Kommunikation, Telegram hingegen ist ein Hybrid. In Österreich stuft deshalb die KommAustria, die Regulierungsbehörde für Rundfunk und audiovisuelle Medien, auch Telegram zur Gänze in den Wirkungsbereich des Kommunikationsplattformen-Gesetz (KoPl-G) ein. Auch in Deutschland fordern deshalb die Experten die Gleichbehandlung des Messengerdienstes mit Plattformen. Schliesslich können Kanäle abonniert, Beiträge geteilt, Gruppen-Videocalls eingerichtet und Umfragen gestartet werden. Massnahmen, die weit über die Möglich-keiten eines blossen Messengerdienstes hinausgehen. Die EU diskutiert inzwischen über einen europäisch-einheitlichen „Digital Services Art“ (DSA), der solche Probleme, wie beispielsweise die Sorgfaltspflicht von Plattformen, regeln soll.
Auch wenn das Vermögen der Durovs auf 17,2 Milliarden US-Dollar geschätzt wird, plant Telegram unterdessen die Einbindung von Werbe-schaltungen („Monetarisierung“). Bleibt abzuwarten, welche heimische Unternehmen sich nicht um dieses „G’schmäckle“ scheren, das einige wenige verursachen, dem sich auch bereits eine Task-Force des deutschen Bundeskriminalamtes angenommen hat, mit dem aber einige Millionen User weltweit nichts zu tun haben!

Links:

– www.isdglobal.org
– www.bmj.de
– www.bmi.bund.de
– www.cemas.io
– freiheitsrechte.org
– www.fedpol.admin.ch/fedpol/de/home.html

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Olympische Winterspiele – wie sie nie mehr wieder sein sollten

„Wenn ich noch aktiv wäre, würde ich mich mit meinen Äußerungen zurückhalten, bis ich wieder im Flieger zurück sitze.“
(Sven Hannawald)

Ein Fest des Sports, der Spitzenleistungen, der Freude und des Mitein-anders, des „Über-den-Tellerrand-Hinausschauens“ der Sportler – das sind die Olympischen Spiele! Oder vielmehr waren sie dies einmal. Leider geht es seit geraumer Zeit schon um ganz andere Dinge. Und Beijing ist die Spitze der Perversion. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung titelte ganz zurecht am 05. Februar:

„China zeigt dem Rest der Welt den Mittelfinger“!
(Yaqiu Wang, Human Rights Watch)

Ich werde Ihnen nun die Gründe meines Denkens in Folgenden etwas näher bringen.

.) China und die Menschenrechte
Das Reich der Mitte steht nicht wirklich für den kommunistischen Gleich-heitsgrundsatz der Arbeiterklasse. Viele Völker, wie etwa die Tibeter oder Uiguren (muslimische Minderheit), werden nicht wie der Rest der Chinesen behandelt. Wenn nun also eine Uigurin als Fackelläuferin bei der Eröffnungszeremonie zum Einsatz kam, so hat dies wohl vornehmlich mit dem ständigen Lächeln der Regierungsvertreter zu tun. Menschenrechtler und auch Uiguren sprechen von einer „schändlichen“ Propaganda-Aktion. Langläuferin Dinigeer Yilamujiang ist auch in ihrer Heimat nicht wirklich bekannt. Die USA, Grossbritannien, Kanada, Australien und Japan haben die Spiele deshalb diplomatisch boykottiert (keine offizielle Entsendung von Regierungsvertretern), da sie sich mit dem Umgang mit Uiguren und anderen Minderheiten in China nicht als einverstanden erklären. So wurden in den letzten Jahren nur in Xinjiang rund eine Million an Ver-tretern von Minderheiten in sog. „Umerziehungslager“ (offiziell: „Fort-bildungseinrichtung“) kaserniert. Die Rede ist von Misshandlung, Folter, ideologische Indoktrinierung etc. Wenn nun die Sportlerin gemeinsam mit ihrem Kollegen von den Nordischen Kombinierern, Zhao Jiawen, die Olympische Flamme entzündet hat, so ist dies nur ein Trugbild. Die deutsche Regierung entschuldigte sich mit Terminkollisionen. Viele der österreichischen Regierung (unter ihnen auch Vizekanzler und Sport-minister Werner Kogler) blieben bewusst fern. Dies führte wiederum zu heftiger Kritik der FPÖ: So empfahl der 3. Nationalratspräsident Norbert Hofer eine „umfassendere Betrachtung der Beziehungen zwischen Öster-reich und der Volksrepublik“, heisst es aus seinem Büro.

„Als die zweistündige Show ihre spektakuläre Auflösung erreichte und zwei junge Athleten vereint die olympische Flamme entfachten, hatte die Sache einen Haken. Eine von ihnen, die den symbolischen Akt ausführte, war die chinesische Langläuferin Dinigeer Yila-mujiang, die uigurischer Abstammung ist. Um es milde auszu-drücken, das war ein hoch provokanter Akt.“
(Guardian)

.) China und das Recht auf freie Meinungsäusserung und Presse-freiheit
Das Reich der Mitte steht nicht wirklich für freies Gedankengut und Information. Davon weiss u.a. auch der ARD-Korrespondent in Shanghai, Steffen Wurzel, zu berichten. Seine Turnuszeit hätte ohnedies Ende Februar geendet, doch bereits zuvor wurde ihm die Arbeitserlaubnis entzogen. Er meint, dass untereinander sehr wohl kritisiert wird. Geht das Ganze jedoch an die Öffentlichkeit, so ist der Entzug der Arbeitserlaubnis noch die wohl harmloseste Konsequenz. Andere fahren ein – Knast oder Arbeitslager. Spricht man untereinander vom Staatschef, so wird es plötzlich sehr ruhig, im Gespräch ist dann nurmehr von „ihm“ die Rede. Ein Sportmoderator meinte ebenfalls kurz vor der Abreise nach China, dass er mit seltsam gemischten Gefühlen in den Flieger steige. „Die Welt ist zu Gast“ (Offizieller Slogan der Winterspiele) – jep, doch danach wird’s wieder Zeit, ohne vorher zu motzen, wieder gen Heimat zu fliegen. Davor werden noch fleissig Gesichtsscans gemacht, Social Media Konten kopiert, Telefonate und Interviews abgehört! Der Big Brother ist überall. Alleine im Pressezentrum sollen 63 Kameras hängen und jede Menge Mikrophone installiert worden sein.

„Die Position des IOC muss angesichts seiner Neutralität sein: Wir kommentieren politische Angelegenheiten nicht. Wenn wir einen politischen Standpunkt einnehmen, zwischen Spannungen geraten, Streit und Konfrontation politischer Mächte, dann bringen wir die Spiele in Gefahr.“
(Thomas Bach, Präsident des IOC)

Dem beugten jedoch die Veranstalter vor. So meinte der hocghrangige chinesische Sportfunktionär Yang Shu, dass sich Verhalten oder Meinungsäusserungen, die sich „gegen den olympischen Geist“ richten „mit einer bestimmten Bestrafung geahndet werden, insbesondere wenn sie chinesische Gesetze oder Regeln verletzen“. Damit ist wohl alles gesagt! Das Reich der Mitte wünscht sich offenbar keinen zweiten Fall „Peng Shuai“, in dem die Tennisspielerin dem Vize-Regierungschef Zhang Gaoli vorgeworfen hatte, sie zum Sex gezwungen zu haben. Unter welchen Umständen Peng Shuai ihre Vorwürfe zurücknahm, ist nach wie vor nicht ganz geklärt.

.) China und die Instrumentalisierung des Sports
Sie steht in Zhangjiakou – das Vorzeigeprojekt Chinas bei diesem Olympischen Winterspielen: Die neue Schisprungschanze! Ein riesiges Monument, mit dem sich die Macher ein Denkmal setzen wollten. Was wird wohl aus dieser Anlage, wenn die olympische Flamme erloschen ist??? Der Doppelweltmeister und Gewinner der Silbermedaille im Biathlon bei den Olympischen Winterspielen von Sotschi 2014, Erik Lesser, bringt’s wohl auf den Punkt: „Geld, Geld generieren. Um nichts anderes geht es hier!“ Durch Gigantomanie wollen wohl die Veranstalter noch mehr Investoren ins Land holen. Hauptsache besser und grösser als bei den Russen, Südkorea und Japan!

„Die Anlagen sind einfach geisteskrank.“
(Erik Lesser)

Und das ist noch lange nicht alles. IOC-Präsident Thomas Bach verbeugte sich bei der Eröffnung der Spiele vor China’s Nummer 1, Xi Jinping. Dieser jedoch erwiderte die Verbeugung nicht, wie es ansonsten in Fernost zur guten Sitte gehört. Können sportliche Grossveranstaltungen tatsächlich nicht mehr in demokratischen Staaten abgehalten werden? Autokratien oder Diktaturen treiben das Spiel immer weiter, höher, poah – was ist das denn?!!! Wenn das olympische Feuer von Soldaten im Stechschritt begleitet wird – sind die Bilder von Berlin 1936 komplett in Vergessenheit geraten?

„Ein lang gehegter Traum geht in Erfüllung!“
(Cai Xi, OK-Chef China)

Fragt sich, welcher Traum! Nun, das IOC wird sich auch weiterhin weigern, politisch Stellung zu nehmen. Schliesslich soll der Sport im Mittelpunkt stehen. Doch werden nach wie vor Spiele an Ausrichter vergeben, die solche wundervolle, gigantische Bilder in die Welt schicken. Die Athleten avancieren immer mehr zu Statisten. Stellt sich somit die Frage: Sport als Mittel zum Zweck?

.) China und Corona
Sportliche Grossveranstaltungen im Zeichen Coronas: Brot und Spiele? Dabei ist Kritik an den Sportlern fehl am Platz. Sie trainieren auf den Punkt hin, um an ihrem Einsatztag das Möglichste, nein, das Beste geben zu können. Schliesslich ist die olympische Goldmedaille ideell immer noch das höchste Ziel, das im Sport erreicht werden kann. Selbst-verständlich auch wirtschaftlich, da die Haltbarkeit im Leistungssport sehr begrenzt ist und wohl die meisten in diesen wenigen Jahren auch wirklich gut verdienen wollen. Es sei ihnen gegönnt! Doch hat Corona in diesem Falle nichts mit Berufsrisiko zu tun! Hier wird eindeutig die Gesundheit der Athleten in den Hintergrund gestellt. Zudem stachelt das Publikum im Stadion, entlang der Strecke oder im Zielraum jeden (auch den Schlechtesten) zu persönlichen Höchstleistungen an. Fehlt dieses Publikum bleibt ein bedrückendes Gefühl übrig. China hat ferner die massivsten Pandemiemassnahmen auf diesem Globus gesetzt. Einerseits um dadurch aufzuzeigen, dass das, was aus diesem Land gekommen ist, jetzt unter Kontrolle scheint. Andererseits um zu vermeiden, dass bei einem Fehler, einem Lapsus plötzlich einige Millionen davon betroffen sind. Andere, für unsereins unvorstellbare Massstäbe! Inzwischen wurden immer mehr Stimmen laut, die die Art der Quarantäne kritisieren. So soll der deutsche nordische Kombinierer, Doppel-Olympiasieger (2014/2018) und Medaillenfavorit Erik Frenzel in einem Zimmer untergebracht worden sein, das wohl eher einer Gefängnis-Zelle entspricht. Vielen anderen Sportlern und Sportlerinnen werden zuhause dasselbe zu berichten wissen. Der Chef de Mission des deutschen Teams, Dirk Schimmel-pfenning, sprach nicht nur in diesem Falle, sondern auch beim Eis-kunstläufer Nolan Seegert von „unzumutbar“! Erst nach dieser Kritik konnten Frenzel und Seegert in ein anderes Zimmer umziehen. Diese Umstände waren jedoch bereits bekannt. Nach dem ersten Weltcup der Saison in Yangqing hatten sich die deutschen Rodler lautstark darüber beschwert. Die Zusicherung über eine Verbesserung sei jedoch nicht eingehalten worden, betont Schimmelpfennig. Übrigens lag Frenzel bei seiner Testung unter 30 CT – der Grenzwert in China liegt jedoch bei 40 CT! Sven Hannawald war es schliesslich, der die Vermutung äusserte, dass bei kritischen Sportlern plötzlich aus einem negativen ein positiver PCR-Test werden könnte.

.) China und die Nachhaltigkeit
Das IOC wäscht stets die Hände in Unschuld: Die Vergabe von Olympischen Spielen erfolgt stets auch unter der Vorgabe der Nach-haltigkeit! Das betrifft nur geringfügiger Eingriff in die Umwelt, Nutzung bestehender Infrastruktur und die weitere Verwendung der Sportanlagen. Bereits in Sotschi/Russland wurden Einwohner enteignet, zwangsum-gesiedelt und ganze Landstriche für die perfekte Piste planiert.

„Aber zu wissen, wie dieses Gebiet vorher ausgesehen hat, macht mich traurig. All das für drei Wochen.“
(Erik Lesser auf Instagram)

Dort, wo diese Pisten, Stadien und Anlagen aufgezogen wurden, stand zuvor nichts, das für eine wintersportliche Nutzung sprechen würde. Die weitere Nutzung danach steht gross in Frage. Erik Lesser ist Biathlet. Die riesige Anlage für die Biathlon-Bewerbe wurde in Kuyangshu errichtet. Nicht nur dort, sondern in den grössten Teilen Chinas weiss man mit dem Begriff „Biathlon“ rein gar nichts anzufangen. Auch über weitere grosse internationale Bewerbe dort ist nichts bekannt.

Viele hochrangige Sportfunktionäre aus Deutschland und Österreich bezeichnen es inzwischen als grossen Fehler, angesichts vornehmlich der Menschenrechtssituation in China die Vergabe im Jahr 2015 an das Land vorgenommen zu haben. So etwa auch die ehemalige Präsidentin des Bundes Deutscher Radfahrer, Sylvia Schenk. Sie ist heute als Sport-beraterin bei Transparency International tätig. Diese Entwicklung sei möglicherweise damals noch nicht vorhersehbar gewesen – inzwischen verlange der Ausrichtervertrag von Bewerbern die Achtung der Menschenrechte. Übrigens haben sich viele der Sponsoren der Olympischen Spiele wie Allianz, Airbnb, Coca Cola, Intel, Procter & Gamble oder Visa nicht von möglichen Menschenrechtsverletzungen des Ausrichterlandes distanziert.

„Für uns als IOC-Sponsor stehen die Werte der olympischen Bewegung – Exzellenz, Freundschaft und Respekt – sowie die Leistungen der Athleten an erster Stelle!“
(Pressemitteilung Allianz)

Und von Andrea Fairchild von Visa war zu erfahren:

„Wir sind gegen Völkermord, wo immer so etwas passiert!“

Vom US-Senator Tom Cotton befragt, ob sie das, was im chinesischen Landesteil Xinjiang als Völkermord bezeichnen würde, meinte sie, dass das von ihr vertretene Unternehmen sich nicht in der Lage sehe, dies zu beurteilen. Dabei müsste es diesen Global-Players bekannt gewesen sein, dass dort etwas nicht stimmt, meint auch die Wirtschaftsethikerin Alicia Hennig vom Internationalen Hochschulinstitut (IHI) in Zittau. Schliesslich gäbe es die Unterdrückung der uigurischen Minderheit in China und die Lage in Tibet und Hongkong ja schon seit längerer Zeit („Man wusste ja schon, was in China Sache ist.“). Japan hingegen ist hier einen Schritt weiter – allerdings aus anderen Gründen: Der Automobil-Hersteller Toyota stoppte bereits im Sommer seine Olympia-Werbung! Seine Befürchtung: Imageschaden!
Der Vollständigkeit halber erwähnt: Neben den bereits benannten Unter-nehmen treten auch folgende Unternehmen als Sponsoren der Olympischen Spiele in China auf:
Alibaba
Atos
Omega
Panasonic
Samsung

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Arabischer Frühling – was übrig blieb! – Teil 2

Nachdem sich ein tunesischer Gemüsehändler im Dezember 2010 auf dem Marktplatz von Sidi Bouzid selbst verbrannte, war der Funke aus-gelöst: Ohne Rücksicht auf Ländergrenzen kam es in allen arabischen Ländern zu Demonstrationen, Unruhen, Revolutionen und Bürgerkriegen. Geschichtsexperten sprechen gar von einer „historischen Zäsur“ – ähnlich dem Fall der Mauer in Deutschland. Doch: War es ein Weg vom Regen in die Traufe? Gehen wir wieder in ’s Detail!

.) Jemen
Am 27. Januar 2011 greift der Arabische Frühling auf den Jemen über. Nicht weniger als 16.000 Menschen demonstrieren in der Hauptstadt Sanaa gegen das Regime von Präsident Ali Abdullah Salih. Die Proteste reissen auch nicht ab, als am 02. Februar Salih erklärt, dass er nicht wieder kandidieren und das Amt auch nicht an seinen Sohn weitergeben werde. Im März schlagen Soldaten die Unruhen blutig nieder. Doch gärt es weiter. Am 20. März wird die Regierung Salih entlassen – er erklärt sich jedoch erst im April dazu bereit zurückzutreten. Nun marschieren Stammesmilizen gegen die Regierungstruppen auf. Erst im November unterzeichnet Salih ein Abkommen, das die Machtübergabe an den Vizepräsidenten Abed Rabbo Mansur Hadi vorsieht und innerhalb von 90 Tagen Präsidentschaftswahlen zusagt. Dieses wird jedoch nicht von den schiitischen Huthi anerkannt. Salih verbündet sich mit ihnen gegen die Übergangsregierung, die späterhin faktisch entmachtet wird. Inzwischen haben sich einzelne Generäle mit ihren Truppen selbständig gemacht – sie spielen nach eigenen Regeln. Am 26. März 2015 beginnt die „Operation Decisive Storm“ („Sturm der Entschlossenheit“), eine politische und militärisch Intervention, angeführt von Saudi-Arabien und den Teilnehmerstaaten Ägypten, Bahrain, Katar, Kuwait, den VAE, Jordanien, Marokko sowie dem Sudan und dem Senegal. Unterstützt wird diese Allianz von den USA, Frankreich und Grossbritannien. Truppen greifen, ebenso wie Teile der Armee und der sunnitischen Stammesmilizen auf der Seite des rechtmässigen Präsidenten Hadi ein. Allerdings kämpfen auch die al-Qaida (AQAP) und ein Ableger des IS gegen die Huthi-Rebellen. Sie verfolgen jedoch eigene Interessen. Obgleich die Rebellen nahezu keine Gebietsverluste zu beklagen haben, erklärt Saudi-Arabien die Operation bereits am 21. April 2015 als beendet. Gewinner hingegen sind die Dschihadisten, die die Kontrolle über weite Gebiete entlang der Küste des Golfs von Aden erlangten. Am 22. April beginnt die „Operation Restoring Hope“ („Wiederherstellung der Hoffnung“). Inzwischen meldet sich der UN-Koordinator für humanitäre Angelegenheiten zu Wort. Er bezeichnet die Luftangriffe der Allianz als Verstoss gegen das inter-nationale humanitäre Völkerrecht. Während im Jemen weiterhin gekämpft wird, enden die durch die UNO vermittelten Friedensgespräche in Genf ohne Ergebnis. Die humanitäre Situation ist bereits dermassen proble-matisch, sodass die UNICEF im Jahr 2018 von „living hell for children“ spricht. Marokko und die VAE ziehen daraufhin Truppen aus der Allianz ab. Der erste Waffenstillstand im April 2020 wird auch von Saudi-Arabien selbst nicht eingehalten, obwohl von dort ausgerufen. Den zweiten Waffenstillstand im März 2021 lehnen die Huthi-Rebellen ab. Der Bürger-krieg tobt weiter.

.) Libyen
Am 18. Februar 2011 kommt es in der libyschen Hafenstadt Bengasi zu Massenprotesten! Nachdem die Einsatzkräfte hart durchgreifen, sind Dutzende Todesopfer zu beklagen. Staatschef Muammar al-Gaddafi will die Zustände von Tunesien und Ägypten in seinem Land verhindern: Er kappt die Internetverbindungen, wodurch selbstverständlich auch Face-book und Twitter betroffen sind. Nachdem das Militär brutal gegen die Demonstranten vorgeht, treten viele hochrangige Politiker zurück. Im Osten des Landes sammeln sich unterdessen die Gegner Gaddafis. Dort bringen sie weite Gebiete unter ihre Kontrolle. Aus den Demonstrationen hat sich ein blutiger Bürgerkrieg entwickelt. Am 17. März verabschiedet der UN-Sicherheitsrat die „Resolution 1973“ (zehn Ja-Stimmen und fünf Enthaltungen). Gefordert wird dabei ein sofortiger Waffenstillstand und die Einrichtung einer Flugverbotszone. Die Einhaltung dieser kontrollieren NATO-Truppen – allen voran die USA und Grossbritannien. Mit Hilfe dieser NATO-Truppen gelingt es den Rebellen, die inzwischen einen Nationalen Übergangsrat gegründet haben, Gaddafi zu stürzen. Am 20. Oktober wird er nahe seiner Geburtsstadt Sirte aufgegriffen und unter nach wie vor noch nicht geklärten Umständen erschossen. Am 07. Juli 2012 finden die Wahlen zum Allgemeinen Nationalkongress statt. 39 der 80 Parteisitze gehen dabei an die Allianz der nationalen Kräfte unter Mahmud Dschibril. Am 04. Dezember stimmt die Nationalversammlung für die Einführung der Scharia. Diese Entscheidung lässt den Bürgerkrieg erneut aufflammen. Die beiden Fronten werden von den unter-schiedlichsten Staaten mit den unterschiedlichsten Zielen unterstützt, darunter Russland, die Türkei, Frankreich, Italien und die USA. Nach intensivster Vermittlung durch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ist es inzwischen ruhiger geworden.

.) Syrien
Die ersten Proteste werden durch die Verhaftung von 15 Kindern in Syrien losgetreten. Zahlreiche Oppositionelle werden festgenommen, die Truppen von Präsident Baschar al-Assad gehen immer blutiger vor. So sterben in der Stadt Hama im August 2011 100 Menschen. Mit Boden-truppen und Panzern, unterstützt von Kriegsschiffen rückt Assad auf die Hafenstadt Itakia vor. Dennoch reissen die Proteste nicht ab. Assad reagiert mit einer Regierungsumbildung und der Aufhebung des Aus-nahmezustands. Dennoch werden immer mehr Städte zu Brennpunkten. Im Sommer 2011 bilden desertierende Soldaten die Freie Syrische Armee mit dem Ziel, Zivilisten von den bewaffneten Übergriffen zu schützen. Die Proteste und Demonstrationen weiten sich immer mehr zum Bürgerkrieg aus. Assad lenkt erneut ein und lässt ein Verfassungsreferendum durch-führen. Dabei wird der Führungsanspruch der Baath-Partei von Assad und der Sozialismus aus der Verfassung gestrichen. Bis einschliesslich Juli 2013 sollen nach UN-Angaben mehr als 100.000 Menschen ums Leben gekommen sein – eine Million Menschen sind ins Ausland geflohen, vier Millionen im Land selbst auf der Flucht. Assad lässt inzwischen Nerven-gas (Sarin) etwa in Ghuta einsetzen – trotz der eindeutigen Zuordnung durch UN-Experten, bestreitet dies der Machthaber bis zuletzt und schiebt es dem Gegner zu. Ab Mai 2013 unterstützen die Hisbollah, ab 2015 auch Russland das Assad-Regime. Der Bürgerkrieg dauert nach wie vor an. Auch der Islamische Staat (IS) nutzte die Gunst der Stunde und errang innerhalb kürzester Zeit grosse Gebietserfolge.

.) Bahrein
Dort, wo sprichwörtlich das Geld aus dem Boden fliesst, würde sich kaum jemand Proteste erwarten. Trotzdem erfasst der Arabische Frühling auch das Königreich am Golf. In diesem Falle errichten am 14. Februar 2011 einige Hundert Demonstranten eine illegale Zeltstadt auf dem Perlenplatz der Hauptstadt Manama. Die Schiiten (der Grossteil der Bevölkerung) protestieren damit gegen das sunnitische Königshaus unter Hamad bin Isa Al Chalifa. Der lässt die Zeltstadt durch Sondereinheiten der Polizei räumen. Dadurch werden aus den einigen Hundert mehrere zehntausend Menschen, die sich auf den Strassen versammeln. Die Regierung schickt ein Hilfegesuch in Richtung Saudi Arabien, das mit rund 1000 Soldaten antwortet. Im Land wird der Ausnahmezustand ausgerufen, die Demonstrationen blutig niedergeschlagen. Hierauf treten einige hochrangige schiitische Politiker und Richter zurück. Verhaftungen folgen, dennoch werden die Proteste fortgesetzt – auch während des Formel I-Rennens 2012. Der Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten dauert nach wie vor an.

.) Dschibuti
Auch hier gehen tausende Menschen am 18. Februar 2011 auf die Strasse um gegen die Regierung unter Präsident Ismail Omar Guelleh zu demonstrieren. Es folgen alsdann Verhaftungen und das Versprechen des Präsidenten, Reformen anzugehen. Dieser wird bei der Präsidentschafts-wahl am 08. April erneut gewählt. Nach Oppositionsangaben verlief die Wahl nicht fair.

.) Irak
In Basra (Südirak) beginnt am 22. Februar 2011 der Arabische Frühling, drei Tage später werden auch in anderen Landesteilen Proteste gemeldet. Die Demonstranten prangern damit vornehmlich die Korruption und die hohe Arbeitslosigkeit an. Abhängig von der Region gehen Sunniten und Schiiten, aber auch Kurden auf die Strasse. Nachdem Demonstranten versucht hatten, Regierungsgebäude zu stürmen, greifen die Sonder-einheiten gewaltsam durch; viele Menschen kommen dabei ums Leben. Der Gouverneur von Basra, Scheltak Abbud, tritt am 25. Februar zurück – ihm galten wohl die meisten Proteste.

Weitere Proteste gab es in Mauretanien (gegen die Sklaverei), dem Oman (politische Reformen), den Palästinensischen Gebieten (politische Reformen), dem Sudan (politische Reformen) und auch Saudi-Arabien (konstitutionelle Monarchie und gerechtere Verteilung des Wohlstands). Die jeweiligen Machthaber reagierten mit Versprechungen für Reformen und Verfassungsänderungen – zumeist waren sie das Papier nicht wert, auf dem die Unterschriften gesetzt wurden. Viele Machthaber oder deren gleichgesinnten Nachfolger sind nach wie vor im Amt. In nahezu keinem Land des Arabischen Frühlings hat sich die Situation für das Volk verbessert. Meist folgte auf eine Autokratie die nächste Autokratie. Der Wunsch nach Freiheit, Demokratisierung und Menschenrechten ist zumeist als Traumblase geplatzt.
Auch in nicht-arabischen Staaten kam es zu grossen Demonstrationen und Protesten: China, dem Iran, Malawi – ja sogar in Spanien. In Israel löste die obdachlos gewordene Filmemacherin Daphni Leef im Juli 2011 eine Protestwelle mit hundertausenden Teilnehmern aus. Als sie ihre Miete nicht mehr bezahlen konnte, schlug sie ihr Zelt auf dem Mittelstreifen des Rothschild-Boulevards in Tel Aviv auf. Viele folgten ihr, noch mehr der Idee des Protests für soziale Gerechtigkeit. Minister-präsident Benjamin Netanjahu versprach auch hier Reformen. Die meisten verliefen angesichts Corona im Sande.
Viele von Ihnen werden nun sagen: Arabien – das ist weit weg, geht mich deshalb nichts an! Tatsächlich sind diese Entwicklungen auch in Europa sehr stark zu spüren: Viele Menschen flüchten in den vermeintlich „goldenen Norden“. Neue Probleme warten auf sie! Ein neues Leben, das zumeist nicht besser ist als das, das sie vor ihrer Flucht geführt haben. Gelingt es der Staatengemeinschaft nicht, die Probleme vorort, wie Korruption, Gewalt, Diskriminierungen, Wirtschaft etc. zu lösen, wird der Flüchtlingsstrom niemals abreissen, sondern immer grösser werden. Besonders die Ausbeutung der dortigen Bevölkerung durch globale Multi-player, ermöglicht durch die Bereicherung der regierenden Autokraten, sollte als erstes gestoppt werden.

Nahezu jede Revolution beginnt durch den Kampf ums Brot!

Filmtipps:

– www.arte.tv/de/videos/103264-001-A/wo-steht-die-arabische-welt-heute/
– www.arte.tv/de/videos/101716-000-A/10-jahre-arabischer-fruehling -eine-bilanz/

Lesetipps:

.) Der arabische Frühling. Als die islamische Jugend begann, die Welt zu verändern, Jörg Armbruster; Westend Verlag 2011
.) Der Aufstand: Die arabische Revolution und ihre Folgen; Volker Perthes; BPB 2011
.) Tage des Zorns. Die arabische Revolution verändert die Welt; Michael Lüders; C.H.Beck 2011
.) Krieg oder Frieden: Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens; Hamed Abdel-Samad; Droemer 2011
.) Der arabische (Alb-)Traum. Aufstand ohne Ziel; Anne-Béatrice Clasmann; Passagen Verlag 2016
.) Arabiens Stunde der Wahrheit. Aufruhr an der Schwelle Europas; Peter Scholl-Latour; Propyläen-Verlag 2011
.) Vernetzt Euch!; Lina Ben Mhenni; Ullstein 2011
.) The New Middle East: Protest and Revolution in the Arab World; Hrsg.: Fawaz A. Geerges; Cambridge University Press 2014

Links:

– unric.org
– www.giga-hamburg.de
– www.bpb.de
– www.swp-berlin.org
– www.kas.de
– www.boell.de
– www.bildungsserver.de
– www.zfw.uni-hamburg.de

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Arabischer Frühling – was übrig blieb!

„Freiheit ist es wert zu sterben!“
(George W. Bush, 2003)

Tunesien am 17. Dezember 2010: In Sidi Bouzid (250 km südlich der Hauptstadt Tunis) steht ein Mann auf dem Marktplatz. Er übergiesst sich mit Benzin und zündet sich selbst an. Tarek al-Tayeb Mohamed Bouazizi erliegt am 04. Januar 2011 seinen schweren Verbrennungen und Verletzungen. Der Gemüsehändler betrieb einen mobilen Gemüsestand. Damit ernährte er seine Mutter und die fünf Geschwister. Doch die Behörden machten es ihm nicht leicht: Wegen fehlender Genehmigungen wurde sein Stand mehrfach geschlossen, die Waren und auch die Waage beschlagnahmt. Als er auf der Polizeiwache dagegen Beschwerde einlegen wollte, wurde er schwer misshandelt.

„Seine Tat war der Funke, der den Flächenbrand entzündet und letztlich die ganze arabische Welt verändert hat!“
(Ibrahim al-Koni 2011 im „Tagesspiegel“)

Was damals noch niemand ahnen konnte: Bouazizis Selbsttötung hat den Arabischen Frühling ausgelöst. Revolutionen, die wie ein Lauffeuer ganz Nordafrika und den Nahen Osten erfassten. Leider grossteils mit sehr blutigem Wegzoll! Doch – was blieb übrig? Was hat sich dort seither getan? War der sehnliche Wunsch nach Freiheit und Demokratie die zigtausenden Opfer wert? Eine Bilanz!

.) Tunesien
Bouazizi wurde im Krankenhaus noch vom tunesischen Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali besucht. Danach musste dieser nach 23 Jahren Regierungsverantwortung am 14. Januar Tunesien fluchtartig verlassen. Bereits am 17. Dezember gab es die ersten Proteste, die immer mehr wurden – leider auch verbunden mit Plünderungen und Gewaltexzessen. Aus den Unruhen wurde ein Volksaufstand, aus dem Volksaufstand eine Revolution. Über das Land wurde der Ausnahmezustand verhängt. Als sich das Militär auf die Seite der Demonstranten stellte, wurde eine Übergangsregierung („Regierung der nationalen Einheit“) erstellt und ein Übergangspräsident in’s Amt bestellt. Die Proteste jedoch rissen nicht ab, sie richteten sich vornehmlich gegen Mitglieder der Regierung, die bereits der Ben-Ali-Regierungspartei angehörten. Viele von ihnen schieden schliesslich am 27. Januar 2011 aus der Regierung aus. 2014 wurde die Autokratie Ben Alis durch eine demokratische Verfassung mit anschliessenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ersetzt. Seither ist es ruhiger geworden in Tunesien. Tatsächlicher Grund für die Unruhen waren allerdings die stark gestiegenen Lebensmittelpreise und Energie-kosten, die hohe Arbeitslosigkeit, die miserablen Zukunftsperspektiven der Jugend und die Korruption der bisherigen Regierung. Ben Ali übrigens kam 1987 durch einen Putsch an die Macht. Gegen ihn erliess die tunesische Justiz am 27. Januar 2011 einen internationalen Haftbefehl, wie auch gegen seine Frau Leila und einige seiner engsten Mitarbeiter. Ben Ali verstarb am 19. September 2019 in Dschidda/Saudi Arabien.

.) Algerien
Dieses Land ist schnell abgearbeitet, da hier seit 1999 Präsident Abd al-Asis Bouteflika mit eiserner Faust regierte. Zuvor stand Algerien 19 Jahre lang im Ausnahmezustand, der dem Präsidenten zusätzliche Macht-befugnisse bescherte. Am 05. Januar 2011 begannen die Unruhen. Grund dafür waren ebenso die stark gestiegenen Preise für Grundnahrungsmittel und die schlechten Zukunftsperspektiven der grossteils gut ausgebildeten Einwohner. Der Ausnahmezustand wurde aufgrund des Drucks aus der Bevölkerung am 22. Februar aufgehoben. Hinter den Aufmärschen stand allerdings keine einheitliche Organisation, was sie zu Einzelereignissen machte. Die Polizei knüppelte sie mit Schlagstöcken nieder. Im April wurden erneut Unruhen im Keim erstickt. So zudem am 05. Oktober 2011, dem Jahrestag der Demokratiebewegung 1988. Deren Initiatoren wurden verhaftet. 2013 flachten die Demonstrationen ab – Präsident Bouteflika erlitt kurz danach einen Schlaganfall, kandidierte allerdings nach einer Verfassungsänderung (anno 2016) bei der Wahl 2019 erneut. Dies führte zu weiteren, landesweiten Protesten. Daraufhin zog Bouteflika seine Kandidatur zurück. Zwei Jahre später, am 17. September 2021, verstarb „Boutef“ Bouteflika. Nach den Präsidentschaftswahlen trat am 19. Dezember 2019 Abdelmadjid Tebboune das Amt des Premierministers an. Das Militär stellte sich hinter ihn, der Verfassungsgerichtshof bestätigte seine Wahl (1. Wahldurchgang 58,15 %). Er liess das Volk über eine neue Verfassung abstimmen, das diese auch bestätigte. Danach stellte er die Geheimdienste unter die Kontrolle der Regierung. Dieser Schritt begrenzte die Macht des Militärs. Seither wurde es auch in Algerien wieder ruhig.

.) Ägypten
Am 25. Januar 2011 („Tag des Zorns“) begann in Ägypten der Arabische Frühling in Form einer Grosskundgebung gegen das korrupte Regime von Präsident Husni Mubarak. Es gärte allerdings schon vorher, da auch in Ägypten seit 30 Jahren Notstandsgesetze in Kraft waren, die dem Präsidenten entscheidende Machtbefugnisse zugestanden. Demonstra-tionen der elitären Oppositionsbewegung wurden stets mit Polizeigewalt niedergeschlagen, Reformen nur unmerklich durchgeführt, sozusagen um den Schein zu wahren. Auch hier waren es wohl die desolate Wirt-schaftslage und die Perspektiven, die die Menschen auf die Strassen trieben. Ägypten galt bislang als guter Partner des Westens, weshalb hier die Entwicklung mit grösster Sorge beobachtet wurde. In der Regierungspartei selbst herrschte Uneinigkeit über den zukünftigen Weg des Landes. Die Unruhen kamen somit zu einem mehr als ungünstigen Moment. Organisiert wurden sie vornehmlich durch die Mittelschicht-jugend via sozialer Netzwerke. Mubarak hatte die Jahre zuvor versucht, seinen Sohn Gamal als Nachfolger aufzubauen. Der jedoch versuchte ein Netzwerk mit den Wirtschaftstreibenden und Grossunternehmern aufzu-bauen. Ihm fehlte der Rückhalt im Militär, weshalb sich nach und nach Teile der Armee auf die Seite der Demonstranten stellten, da die Offiziere ihre lukrativen Nebengeschäfte dahinschwinden sahen. Am 11. Februar 2011 schliesslich übernahm das Militär unter dem bisherigen Verteidigungsminister Generalfeldmarschall Muhamed Hussein Tantawi offiziell die Macht, dem sich auch die bis zuletzt für Mubarak gewaltsam kämpfenden Polizei- und Sicherheitskräfte unterordneten. Husni Mubarak wurde abgesetzt, später zu lebenslanger Haft verurteilt, seine National-demokratische Partei NDP aufgelöst. Viele wurden unter Anklage gestellt. Die anschliessenden Parlamentswahlen gewann die „Partei für Freiheit und Gerechtigkeit“ (Muslimbrüderschaft). Diese war jedoch intern selbst uneins: Der konservative Flügel forderte den Umbau der Gesellschaft nach islamischen Vorstellungen, während der progressiv-reformistische Flügel einen Zivilstaat mit religiösem Rahmen forderte. Mohamed Mursi übernahm die Präsidentschaft. Dies trieb wiederum die liberalen, linken und säkulären Kräfte auf die Barrikaden. Am 29. November 2012 beschloss die Verfassungsgebende Versammlung einen Entwurf für eine neue, auf der Scharia aufbauenden Verfassung. Erneut waren Unruhen die Folge. Hierauf putschte das Militär. Bei den Neuwahlen 2014 siegte mit Generaloberst Abd al-Fattah as-Sisi erneut ein Autokrat. Er wurde im April 2018 mit 97 % der Stimmen wiedergewählt. Allerdings übten viele unabhängige Wahlbeobachter Kritik an diesen Wahlen.

.) Jordanien
Schon am 07. Januar 2011 gab es in Jordanien erste Demonstrationen. Sie richteten sich nicht gegen das Königshaus, sondern gegen die Regierung. Auch hier waren es vor allem Preissteigerungen bzw. die Streichung von Subventionen auf Benzin, Diesel und Erdgas. Am 26. Januar 2011 schliesslich kam es zu einem durch die Islamische Aktionsfront ausge-rufenen Protest. König Abdullah II. bin al-Hussein forderte daraufhin Reformen ein. Ministerpräsident Samir ar-Rifai wurde abgesetzt. Der König änderte die Verfassung insofern, dass der Regierungschef und dessen Kabinett durch das Parlament gewählt wird, er jedoch ein Veto-Recht ausüben kann. Am 23. Januar 2013 wurden Parlamentswahlen abgehalten, aus welchen die Loyalisten als Sieger hervorgingen. Dies führte erneut zu Protesten vor allem aus dem Kreise der Muslimbrüder und ihren Anhängern, die die Wahlen boykottierten.

.) Kuwait
Die ersten Proteste begannen am 18. Februar 2011 in al-Dschahra. Hierbei ging es jedoch nicht um Preissteigerungen sondern um die Ver-leihung der Staatsbürgerschaft. Insgesamt sollen dabei 30 Demons-tranten verletzt worden sein. Es folgten Proteste der Opposition gegen die Korruption von Regierungsmitgliedern. Die Regierung von Nasir al-Muhammad al-Ahmad as-Sabah trat am 28. November zurück. Zuvor hatten Hunderte Demonstranten das Parlamentsgebäude gestürmt. Kuwait ist eine konstitutionelle Erbmonarchie. Der Emir ist sowohl welt-liches, als auch geistliches Oberhaupt.

.) Marokko
In Marokko versammelten sich am 20. Februar 2011 („Tag der Würde“) tausende Demonstranten nach einem Aufruf auf Facebook. Es kam zu Unruhen, die in der Stadt Al-Hoceima fünf Todesopfer forderten (Brand einer Bankfiliale). Die Demonstrationen hatten auch hier eine neue Verfassung zum Ziel – Marokko ist eine konstitutionelle Monarchie. König Muhammad VI. schwenkte ein, musste dadurch einen Teil seiner Befugnisse abtreten. So wird seither der Regierungschef aus der Partei mit den meisten Parlamentssitzen gewählt und die Judikative deutlich von der Exekutive getrennt. Die neue Verfassung wurde am 01. Juli 2011 mittels eines Referendums mit 98 % bestätigt.

Mohamed Bouazizi erhielt postum 2011 den Sacharow-Preis für geistige Freiheit des Europäischen Parlaments, in Paris wurde ein Platz nach ihm benannt. Die tunesische Post widmete ihm eine Briefmarke! Es hat sich noch weitaus mehr in der arabischen Welt damals bis heute getan. Davon berichte ich in der kommenden Woche.

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So manches Privathaus würde abgerissen werden

All jene unter Ihnen, die sich während der Feiertage nicht vollends vom weihnachtlichen Glanz haben blenden lassen, werden die Tagesschlag-zeile in den Nachrichten mitverfolgt haben: Frankreich will am Atomstrom festhalten, die EU will ihn künftig gar als „klimafreundlich“ und somit nachhaltig bezeichnen, sofern sie den aktuellsten Standards entsprechen und bis 2050 eine Entsorgungsanlage für hochradioaktiven Abfall errichtet wird. Das stösst v.a. dem Nachbarn Deutschland mehr als sauer auf – wird doch hier an einer atomfreien Zukunft gearbeitet – ebenso wie in Österreich seit jeher. Alsdann wurde am 31. Dezember 2021 der letzte Block des Siedewasser-AKWs Grundremmingen abgeschaltet. Bundes-umweltministerin Steffie Lemke (Bündnis 90/Die Grünen) meint durchaus zurecht, dass eine Technik, die gefährliche Abfälle hinterlasse, niemals nachhaltig sein könne! Aber auch aus dem Alpenland gibt es keine guten Worte hierfür, ist es doch förmlich umringt von Schrottmeilern – die meisten davon noch nach sowjetischer Bauart. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat unterdessen mit aller Vehemenz betont, dass sein Land die gesteckten CO2-Ziele nur mit der Hilfe der Atomkraft schaffen werde. Gesagt getan versprach er gleich darauf eine Milliarde Euro für die Kernkraft und den Bau neuer Reaktoren. Anbieter Électricité de France SA (EDF) nahm ihn beim Wort und legte die Pläne für sechs weitere Druck-wasserreaktoren auf den Tisch. Es wird also weitergehen in Frankreich.
Klimafreundlich? Unter Umständen, doch wird zu warmes Wasser in die Flüsse abgeleitet. Nachhaltig? Keineswegs, braucht doch der dabei ent-stehende, strahlende Atommüll mehrere tausend Jahre bis zur Halb-wertszeit.

Die Katastrophe von Fukushima liess die deutsche Kanzlerin eine 180-Grad-Kehrtwende beschreiten – ähnlich wie jenes kleine Flüchtlings-mädchen, das erstmals öffentlich im Fernsehen Emotionen bei Frau Merkel aufkommen liess. Danach folgte das allseits bekannte „Wir schaffen das!“. Doch Deutschland kann atomfrei planen – so lange die Nachbarn nicht mitmachen, erscheint alles eher sinnlos. So stehen rund um deutschen Boden nicht weniger als neun Kernkraftwerke mit ins-gesamt 20 Reaktoren – innerhalb von gerade Mal 100 Kilometer nach der Grenze. 100 Kilometer – ein Klacks für eine atomar verseuchte Staub-wolke. Wer damals den Super-Gau von Tschernobyl am 26. April 1986 miterlebt hat, wird sich noch erinnern können, wie es ist, wenn aufgrund des kontaminierten Fallouts die Kinder nicht in den Sandkisten spielen und keine selbstgesammelten Pilze oder Wildfleisch verzehrt werden darf. Dabei liegt der Katastrophenort 1.044 km von Wien und 1.147 km von Berlin entfernt. Tihange im benachbarten Belgien aber ist eines dieser 100-km-AKWs. Die Meiler befinden sich rund 70 km von Aachen ent-fernt. Sollte also aufgrund eines Defektes oder Unfalles Radioaktivität austreten, so gehören die beiden Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz mit zu den ersten, die davon betroffen wären. Utopie? In keinster Weise – bei dieser Bausubstanz und dem Stand der Technik. So berichtete etwa die Tagesschau 2015 über einen Brand im Reaktorblock 1. Es war zwar ein Feuer im nicht-nuklearen Bereich, doch sollte dies nicht auf die leichte Schulter genommen werden: Der Block hat sich sofort automatisch selbst abgeschaltet, eine Gefahr soll nicht bestanden haben, versucht die Betreiberfirma Electrabel zu beruhigen. Erst kurz zuvor war – trotz grossem Protest aus Deutschland, der Reaktor-Block 2 wieder hochgefahren. Dieser sorgte 2012/2013 für sehr grossen Unmut, als tausende Risse im Reaktor-Druckbehälter sowie Erosionen an der Stahlbeton-Hülle festgestellt wurden – ebenso übrigens wie im 2. Schrottmeiler Belgiens, Doel-3! Im Reaktor 2 gab es immer wieder Probleme in den Jahren 1983, 1990, 2018 und 2019. Daneben wurde im Oktober 2014 bekannt, dass zwischen 2009 und 2012 ein polizei-bekannter Dschihadist dort gearbeitet hatte – als Techniker im Hoch-sicherheitsbereich. Die Druck-Behälter sind in den 70er-Jahren durch das niederländische Unternehmen Rotterdam Drydock geliefert worden, das inzwischen nicht mehr am Markt tätig ist. Baugleiche Typen standen auch in Deutschland (Philippsburg I und Brunsbüttel – beide sind inzwischen stillgelegt), den USA und der Schweiz. 2013 bekundete selbst die Atomaufsicht AFCN Bedenken gegen ein erneutes Hochfahren des Reaktors. Dennoch wurde es immer wieder ans Netz genommen.

Apropos Schweiz – auch bei den Eidgenossen stehen mehrere Schrott-meiler. So kommt es beispielsweise im regelmässigen Abstand von zwei Jahren zu Zwischenfällen am AKW Leibstadt, die jedoch zumeist auf menschlichen Fehlern beruhen. Anders zeigt sich da schon das AKW Gösgen bei Däniken. Rund 60 km von der deutschen und 200 Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt, kommt es hier immer wieder zu Zwischenfällen. einmal waren es zwei Ventile, die zu einer Schnell-abschaltung führten, ein anderes Mal eine nicht absperrbare „Speise-wasserleckage“ an einer Messleitung. Die zweitägige Reparatur verur-sachte einen Produktionsausfall von 57 Mio Kilowattstunden. Rund ein halbes Jahr später führte im selben Jahr 2019 ein Kurzschluss in der Schaltanlage zu einer zweiwöchigen Abschaltung, da ein Transformator gewechselt werden musste (Produktionsausfall: 409 Mio kWh). Das AKW Gösgen sei jedoch nach Angaben von Verwaltungsratspräsident Michael Wider in gutem Zustand und solle noch weitere 20 Jahre betrieben werden (Stand: 2020).
Diese Simulation zeigt die Auswirkungen bei einem möglichen Zwischenfall in Supergau-Grösse des inzwischen stillgelegten AKWs Mühleberg – ebenfalls nicht weit von der deutschen und österreichischen Grenze entfernt:

Auch das zweite Alt-AKW Beznau sorgt für grosse Bedenken: „…eines der gefährlichsten Atomkraftwerke der Welt“! Im Jahre 1969 erbaut befindet sich das AKW nur sechs Kilometer von der deutschen und 111 km von der österreichischen Grenze entfernt. Block 1 war der erste Atommeiler der Schweiz. Im Vergleich zu Mühleberg bestellte der Betreiber NOK (Nord-ostschweizerische Kraftwerke AG) Druckwasser-Reaktoren bei Westing-house aus den USA, ausgestattet mit Turbosätzen der Firma Brown, Boverie & Cie (BBC). Bereits beim Hochfahren des ersten Reaktors gab es Probleme mit der Abdichtung des Primärkreislaufes, mit den Wellen-abdichtungen der Pumpen, der Absauganlage im Sicherheitsbehälter etc. Zudem griff borisiertes Wasser die galvanisierten Schalungsbleche an. Eine Sanierung folgte. Und so ganz nebenbei wurde das Warmwasser, nachdem beide Blöcke den Vollbetrieb aufgenommen hatten, kurz vor deren Mündung in den Rhein in die Aare eingeleitet. Die Folge: Eine Überwärmung des Flusses. Die Serie an Zwischenfällen riss in all den Jahren nicht ab. Erste Korrosionserscheinungen am Block 1 wurden an den Dampferzeugern bereits 1971 festgestellt. „Der Tagesanzeiger“ berichtete 2016 von nahezu tausend Löchern im Reaktor-Stahl von Block 1 („Einschlüsse“). Nicht nur Mikro-Löcher – manche haben einen Durchmesser von bis zu einem halben Zentimeter. Daneben ist die Reaktorummantelung spröde geworden. Beznau hat an sich eine unbefristete Betriebsgenehmigung erhalten – beide Blöcke sollen 2030 abgeschaltet werden. Kommt in der Schweiz das dienstälteste, noch in Betrieb befindliche Kernkraftwerk zur Sprache, so weiss der Eidgenosse durchaus mit dem Ausdruck „Technikmuseum Beznau“ etwas anzu-fangen. Die Kernkraft-Gegner schreien indes immer lauter auf: Beznau gibt während des laufenden Betriebes krebserregende Strahlung ab. Etwa in Form des Kühlwassers der Aare, die dadurch mit Tritium kontaminiert wird. Bei einem Störfall sind hunderttausende Menschen betroffen – riesige Gebiete auf Dauer unbewohnbar! Die Schweiz übrigens zur Gänze! Trotz alledem erhielt das Kernkraftwerk Beznau im Jahre 2001 das ISO-Zertifikat 14001 – ein Hohn gegenüber der Zertifizierungspraxis. Seit 1995 gab es insgesamt 128 meldepflichtige Vorkommnisse!

Nur einen guten Kilometer westlich der deutsch-französischen Grenze befindet sich das älteste französische Kernkraftwerk Fessenheim. Die beiden Druckwasserreaktoren sollten eigentlich Ende 2016 stillgelegt werden, auch sie wurden durch die US-Amerikaner Westinghouse geliefert und gingen 1977 in Betrieb. Beide Blöcke dieses Schrottmeilers wurden gottlob im Jahr 2020 abgeschaltet. Doch verweilen wir noch etwas in Frankreich, das diskussionslos auch weiterhin auf die Atomkraft setzt. Im Januar dieses Jahres waren insgesamt zehn von 56 AKWs nicht am Netz. Darunter auch jene in Penly/Normandie und Civaux/Nouvelle Aquitaine sowie Chooz/Grand Est. Nach Angaben der stellvertretenden Leiterin des Instituts für Strahlenschutz und Atomsicherheit (IRSN), Karine Herviou, soll es sich um Risse im Sicherheitskühlsystem bzw. Korrosions-problemen handeln.
Das alles aber ist vergleichbar harmlos, betrachtet man sich die Vorkommnisse rund um das Vorzeige-Kernkraftwerk Flamanville/ Normandie. Im Jahr beschloss die zum grössten Teil im Staatsbesitz befindliche Electricité de France (EDF) den Ersatz des in die Jahre gekommenen Blocks 3 durch einen leistungsstarken Druckwasser-reaktors. Das Projekt wurde als „Rolls Royce du nucléaire“ in höchsten Tönen gelobt. Der Neubau sollte nach Angaben der Betreiberfirma 3,4 Milliarden Euro kosten. 15 Jahre später sprach der französische Rechnungshof von „… die eigenen Fähigkeiten und Kapazitäten überschätzt und die Kosten und ungelösten Probleme unterschätzt!“ Die tatsächlichen Kosten beliefen sich alsdann auf rund 19,1 Milliarden Euro. Aus der Inbetriebnahme im Jahr 2012 wurde … nichts! Er befindet sich nach wie vor im Bau – jetzt geplante Inbetriebnahme im Jahr 2023. „Sehr ernste Sicherheitsmängel“ haben das Ihre dazu beigetragen. So etwa fehlerhafte Schweissnähte im zentralen Reaktordruckbehälter oder einen zu hohen Kohlenstoffgehalt in der Stahldecke. Somit musste vor der Inbetriebnahme des Blocks bereits grossflächig saniert werden. Übrigens traten dieselben Probleme in Olkiluoto an der Westküste Finnlands auf, an dem auch die deutsche Siemens beteiligt ist. Ein weiterer solcher Druckwasserreaktor befindet sich im britischen Hinkley Point im Bau – geplante Inbetriebnahme 2025. Auch hier explodierten die Kosten von veranschlagten 20 auf vorerst 28,4 Milliarden Euro.

Vor einer durchaus ähnlichen Situation wie Deutschland steht auch Österreich. Im Umkreis von 150 km liegen nicht weniger als 12 Kernkraftwerke, alleine vier davon mit rund 200 km in unmittelbarer Nähe zum Ballungsraum Wien: Bohunice, Mochovce, Temelin und auch Dukovany. Ausgerechnet letzteres ist mit ca. 50 Kilometern Luftlinie zur österreichischen Grenze (zur deutschen sind es 175 km) eines der ältesten Tschechiens. Die drei anderen genannten liegen allesamt in der Slowakei. Temelin nur ca. 60 km von der österreichischen Grenze entfernt – doch wurde dieses erst im Jahr 2002 an’s Netz genommen. Sicherlich ist Dukovany im Vergleich zu den bisher angesprochenen Schrottmeilern ein Jungspund, doch zählt es zu jenen Kernkraftwerken, die nach sowjetischem Vorbild erbaut wurden. Ein Inspektor der IAEO meinte einst, dass in so manchem dieser AKWs Schalter noch mit Streichhölzern fixiert wurden! Block 1 dieses Schrottmeilers sollte eigentlich Ende 2015 vom Netz gehen (die anderen drei 2016 bzw. 2017), doch wurde die Betriebsdauer nun auf 50 bis 60 (!) Jahre verlängert. Und dies obgleich Sicherheitsvorkommnisse nahezu zur Tagesordnung gehören. Diese Druckwasserreaktoren russischer Bauart weisen einerseits viel zu geringe Wandstärken auf, andererseits fehlt ein stabiles Containment. Erwähnt man alsdann im Beisein eines Kernkraft-Experten die Worte „erdbeben-sicher“ und „gefeit gegen Flugzeugabsturze“ , so bricht dieser in ein nicht mehr enden wollendes, schallendes Gelächter aus. Zudem befindet sich das Abklingbecken für abgebrannte Brennelemente ausserhalb des Sicherheitsbehälters, die Blöcke stehen (wie auch in Fukushima) zu nahe nebeneinander, die Kühltürme sind dermassen in Mitleidenschaft gezogen, dass sie extremen Wetterverhältnissen gar nicht mehr stand-halten würden. Ausserdem befindet sich auf demselben Gelände ein Endlager für schwach- und mittelaktiv-strahlenden Atommüll. Zuguter-letzt versuchen die Betreiber immer wieder Leistungserhöhungen zu erzielen. Dadurch sinken auch die Sicherheitsreserven – irgendwann wird dem gegenüber das Material nicht mehr standhalten. Ferner werden durch derartige Abbranderhöhungen auch mehr längerlebige Radio-nuklide produziert, die eine Kontamination im Störfall verstärken.

https://www.w24.at/Video/Dukovany-Hohes-Risiko-nach-Stoerfall/8239

Der Ausdruck „Bröckel-Reaktoren“ übrigens stammt nicht etwa von Kernkraftgegnern sondern nahm seinen Ursprung direkt in der Landesregierung NRWs, bei Umweltminister Johannes Remmel (Bündnis 90/Die Grünen). Im Hohen Haus in Berlin ist nicht selten auch von „Flick-Schusterei“ die Rede, da eine Generalsanierung oder grossflächige Reparatur wirtschaftlich zu teuer kommt und somit nicht rentabel ist.
Belgien hat nach Fukushima den Kernenergie-Ausstieg zugesagt, aller-dings nur dann, wenn andere ausreichende Energie-Reserven vorliegen. Die Schweiz – nach eigenen Aussagen das schönste und reichste Land der Erde – betreibt die ältesten und gefährlichsten Kernkraftwerke. Auch Fukushima änderte nichts an der Tatsache, dass weitere erbaut werden sollten. Doch wurde der Druck der Bevölkerung und der Nachbarn zu stark. In Deutschland sind derzeit noch sechs Kraftwerke in Betrieb – die ältesten wurden bereits abgeschaltet. Wie kurzsichtig Brüssel reagiert, ist am besten an der Milliarden-Subventionsspritze für das englische Kernkraftwerk Hinkley-Point aufzuzeigen. Weshalb Berlin in dieser Thematik nicht ebenso wie Wien Klage dagegen eingebracht hat, ist wohl nur im Bundeskanzleramt bekannt. Schliesslich ist auch in Deutschland die Atommüll-Endlagerung noch mit einem riesengrossen Fragezeichen behaftet. Ein Fass ohne Boden für deutsche Steuergelder. Ebenso übrigens wie die Sanierung von Uran-Minen. „Wismut“ im Grenzgebiet zwischen Sachsen und Thüringen verschlang 6,5 Milliarden Euro! Und zudem wurde der Reaktortyp von Tschernobyl kurz vor der Katastrophe als „sicher“ erklärt! Ausserdem darf die Gefahr eines terroristischen Anschlages gerade jetzt nicht unterschätzt werden. Oder das Szenario eines Flugzeug-Absturzes! Seit Juni 2014 muss nicht mehr nur für Neubauten sondern auch für Betriebszeitenverlängerungen europaweit eine Umweltverträglichkeitsprüfung absolviert werden („Espoo-Konvention“). Allerdings sind diese zu 99 % nicht grenzüberschreitend, sodass auch die Nachbarländer eine Einspruchsmöglichkeit nutzen könnten. Atomenergie ist und bleibt eine nationale Angelegenheit!
Von 133 Kernkraftwerken in Europa gelten 62 als Hochrisikoreaktoren. Der Super-Gau von Tschernobyl hat es aufgezeigt: Bei anderer Witterung wäre die Giftwolke vielleicht gleich nach Westeuropa getrieben. Nicht auszudenken, was das für unsere Breitengrade bedeutet hätte. Voll-kommen gleichgültig also, ob ein solches Schrottkraftwerk 100 oder 200 km von der Grenze entfernt steht – bekommen die Bewohner dieser Kernzone Wind von einem schweren Störfall, so wird es für die meisten unter ihnen zu spät sein. Im August 2010 beispielsweise wurden in Fessenheim nicht weniger als 50 Kubikmeter radioaktiver Gase frei-gesetzt. Obgleich die Zerfallsaktivität nach Angaben der Autorité de sûreté nucléaire (ASN – staatliche französische Atomsicherheits- und Aufsichtsbehörde) nicht gemessen wurde, ist der Vorfall gerade mal mit INES 0 bewertet worden: „Ereignis ohne oder mit geringer sicher-heitstechnischer Bedeutung“. INES ist die Internationale Bewertungsskala für nukleare Ereignisse – sie reicht bis zum „Katastrophalen Unfall“ = INES 7! Kurz nach dem Unfall in Tschernobyl schalteten schwedische Atomkraftwerke automatisch ab, da zu hohe Strahlungswerte gemessen wurden. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Sowjets noch gar keinen Störfall gemeldet!!!
Bei all dem sollte eine Schlagzeile nicht fehlen, die bei so manchem unter Ihnen für lautes Gelächter sorgen wird, anderen hingegen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen lässt: 2008 bohrte im schweizerischen AKW Leibstadt ein Mitarbeiter sechs wanddurchdringende Löcher in das Primärcontainment, um daran Feuerlöscher aufzuhängen.
Tja und von „nachhaltiger Energie“ kann wohl nur dann gesprochen werden, wenn ein Rückbau zur sog. „Grünen Wiese“ erfolgt, aus dem Areal also tatsächlich wieder nicht belastete Grünfläche oder Ackerland gewonnen wird. Der Rückbau zur „braunen Wiese“ bedeutet die weitere Verwendung für industrielle Zwecke. Für den Rückbau werden mancherorts (Schweiz) Fonds bereits während der Laufzeit eingerichtet, andernorts übernimmt dies der Stromkunde oder Steuerzahler.

Lesetipps:

.) „Atomkraft – nein danke!“: Der lange Weg zum Ausstieg. Die Geschichte der Anti-Atomkraft-Bewegung; Wolfgang Sternstein; Brandes & Apsel 2013
.) Kernenergie: Eine Technik für die Zukunft? (Technik im Fokus); Hrsg.: Julia Neles/Christoph Pistner; Springer 2012
.) Die Versicherung der Atomgefahr; Christoph Wehner; Wallstein Verlag 2017
.) Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft; Joachim Radkau/Lothar Hahn; oekom verlag 2013
.) Das Kreuz mit dem Atom: Die Debatte um die Kernenergie und die christlichen Grundwerte der CDU; Stefan Bürgel; LIT Verlag 2018
.) Störfall Atomkraft: Aktuelle Argumente zum Ausstieg aus der Kernenergie; Hrsg.: Ralph TH. Kappler/Karl W. Hoch/Astrid Schneider; VAS-Verlag für Akademische Schriften 2010
.) Der Traum vom eigenen Reaktor: die schweizerische Atomtechnologieentwicklung 1945-1969; Tobias Wildi; Chronos 2003

Links:

– www.bmub.bund.de
– www.umweltinstitut.org
– www.contratom.de
– www.mitwelt.org
– www.greenpeace.de
– rp.baden-wuerttemberg.de
– www.fanc.fgov.be
– www.electrabel.be/
– www.stop-tihange.org
– www.anti-akw-ac.de
– www.derbund.ch
– www.ensi.ch
– www.energiestiftung.ch
– www.bkw.ch
– www.kernenergie.ch
– www.axpo.com
– www.menschenstrom.ch
– www.nein-zu-neuen-akw.ch
– www.mesure-radioactivite.fr
– www.asn.fr
– www.irsn.fr
– www.cez.cz
– www.bmlfuw.gv.at
– www.unet.univie.ac.at
– www.global2000.at
– www.atomkraftfreiezukunft.at
– www.world-nuclear.org

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Die fünfte Jahreszeit

Der leider bereits verstorbene Kabarettist Dieter Hildebrandt meinte 2003 in der Sendung „Unter4Augen“:

„Mensch bedenke: Die Bakterien werden uns von der anderen Seite des Mikroskops aus beobachten!“

Ehrlich? Vor allem in der „Fünften Jahreszeit“ würde es mich durchaus interessieren, was so manch getreuer Vierbeiner angesichts der vielen Jecken und Narren von der Krone der Schöpfung und deren mehr als dubiosen Verhalten in diesen Wochen meint. Sei’s drum – leider sind auch heuer die meisten Grossveranstaltungen abgesagt, da sich nach wie vor einige unmaskierte Narren weigern, an Massnahmen zur Verbesserung jener Lage zu halten, gegen die sie höchstpersönlich auf die Strasse gehen. Aber – das ist wieder eine ganz andere Geschichte!
Lassen Sie uns heute doch mal einen Blick auf die Hintergründe dieses närrischen Treibens werfen, denn viele zwängen sich zwar alljährlich in ein Kostüm, wissen jedoch nicht warum! Fehlt hier der Zusammenhang – wird daraus tatsächlich ein sinnloses Tun! Dabei ist die Geschichte durch-aus interessant.
Der grundsätzliche Gedanke sowohl der Fasnächte als auch des Karnevals lag in dem Aufbrauchen verderblicher Lebensmittel vor dem Beginn der Fastenzeit – also in der christlichen Zeit, nicht wie oftmals angenommen in der vorchristlichen. Zu diesem Fress- und Trinkgelage wurden Freunde und Verwandte eingeladen. Aufzeichnungen lassen darauf schliessen, dass dies bereits im 12./13. Jahrhundert praktiziert wurde.
Je nach Region wird auch heute noch unterschiedlich gefeiert:

1. Die Schwäbisch-alemannische Fastnacht
Eigentlich ist sie noch gar nicht so alt – dennoch der höchste Würden-träger unter allen Varianten: Die schwäbisch-alemannische Fastnacht zählt seit dem Jahr 2014 zum deutschen Verzeichnis des immateriellen Weltkulturerbes nach den Richtlinien der UNESCO. Gefeiert wird sie in Südwestdeutschland sowie der Nordost- bzw. Zentralschweiz. Dement-sprechend unterschiedlich sind auch die Schwerpunkte oder die Bezeichnungen. So schwanken diese zwischen Fasnacht, Fasnet, Fasnad oder auch Fasent. Historisch leitet sich Fasnet von der frühneuzeit- bzw. mittelalterlichen Fasnacht ab, deren Tradition im 20. Jahrhundert wieder ausgegraben wurde. In der Schwäbisch-alemannischen Fastnacht treffen sich die „Narrenhäs-Träger“, also Menschen, die sich mit Larven oder „Schemen“ zumeist aus Holz verkleidet haben. Das Narrenhäs wird vom Träger über Jahre hinweg verwendet, manches Mal gar vererbt. Beginn des ganzen Zinnobers ist der Dreikönigstag, an welchem die Larven „abgestaubt“ werden. Den Höhepunkt stellt der „Schmotzige Dunnschtig“ dar, andernorts auch als „Gumpiger Donnerstag“ bekannt. Dann trifft man auf den Strassen oder bei so manchem Narrentreffen auf jede Menge „Schneller“ (Bodenseekreis), „Klepfer“ (Rottweil) oder „Häser“ (Villingen). Am oberen Neckar sind es die „Abstauber“ und in Rottenburg am Neckar die Hexen. Nahezu jedes Wochenende steigt in pandemiefreien Jahren eine Narrenversammlung. Der zweite wichtige Termin der schwäbisch-alemannischen Fasnet ist der 02. Februar – Maria Lichtmess. Die Anzahl der Veranstaltungen nimmt rasant zu. Da feiert man in Oberschwaben das „Maschgern“, im Schwarzwald das „Schnurren“, in Villingen das „Strählen“, in Oberndorf das „Hecheln“ und in Schömberg das „Welschen“. Andernorts heisst es auch ganz einfach „Aufsagen“! Inhalt dieses Auf-sagens sind die Ereignisse des letzten Jahres, die lustig aufbereitet als Vierzeiler oder Lieder von den maskierten Narren dem Volk dargeboten werden. Diese ziehen von Gasthaus zu Gasthaus, wo sie meist schon sehnsüchtigst erwartet werden. In früheren Zeiten wurde dies an unterschiedlichen Stationen auf der Strasse gezeigt.
Auch für den Schmotzigen Dunnschtig gibt es Namen, die nach Regionen variieren können: Gausaliger Donschdig, Schmitziga Dorschdich, Dicker Donnerstag, Glombiger Doschdig, … „Schmotzig“ bedeutet im Alemannischen „fettig“. Alsdann wurden an diesem Tag zumeist fette Speisen gereicht: Fasnetsküechle, Krapfen oder auch „Nonnenfürzle“. In Konstanz etwa wird die Bevölkerung bereits um 06.00 Uhr durch Trommler und Fanfarenzüge geweckt. Nachdem die Stadt- oder Gemeinderegierung beim Rathaussturm abgesetzt wurde, übernehmen die Narren das Kommando. Gefeiert wird mit unzähligen Umzügen und Strassenfasnachten. In Rottweil und Oberndorf sind dies auch heute noch die bekannten „Narrensprünge“. 1924 gründeten die Narrenzünfte die „Vereinigung schwäbisch-alemannischer Narrenzünfte“ (VSAN). 1937 folgte der Verband oberrheinischer Narrenzünfte und schliesslich 1959 die Narrenvereinigung Hegau-Bodensee. Die Aufgabe dieser Dach-verbände liegt vornehmlich in der Bewahrung des Brauchtums. Die Gestalt der Hexe kam erst 1933 mit der Gründung der Hexenzunft in Offenburg in’s Spiel – nicht unbedingt zum Wohlwollen der Brauchtum-schützer, die die Fasnacht dadurch gefährdet sehen. Sie beruht einerseits auf Märchen, andererseits auf den Überlieferungen über die mittelalter-lichen Hexen. Auch in Tirol gehört die Hexe als ein wichtiger Bestandteil zum Fasching. Dort jedoch bereits seit dem 18. Jahrhundert. Ähnlich ergeht es dem Treibermotiv, bei dem Narrenhäs-Träger eine Figur vor sich hertreiben. In Weingarten ist dies das „Fasnetsbuzzerössle“, in Rottweil das „Brieler Rössle“ und in Bad Waldsee „Werners Esel“. Dieses Motiv kam auch erst später hinzu. Der Teufel jedoch fand seinen Platz bereits vor dem 17. Jahrhundert. In Rottweil als „Federahannes“, im mittleren Schwarzwald als „Elzacher Schuttig“. Die „Alte Vettel“ ist ebenfalls typisch alemannisch: Schon im Mittelalter verkleideten sich Männer mit Frauenklamotten um als solche unerkannt ihr Unwesen zu treiben (“Verkehrte Welt“). Daneben spielten stets auch Sagen- und Tiergestalten, Narrenrufe, Sprüche etc. eine wichtige Rolle, auf die ich aus Platzgründen nicht näher eingehen möchte.

2. Die Buurefasnacht (Alte Fasnacht)
Hier mischte einst die römisch-katholische Kirche gewichtig mit. Im Konzil von Benevent wurde der Beginn der Fastenzeit um sechs Tage vorverlegt. Daran aber hielten sich vornehmlich evangelische Regionen bzw. einige ländliche Gebiete nicht – sie feierten bis zum Dienstag der 6. Woche vor Ostern. Dies ist auch heute noch als „Buurefasnacht“ bekannt. Die römisch-katholische Kirche hingegen sprach vom „civitas diaboli“ – dem Teufelstaat. Das Volk reagierte mit dämonischen, teuflischen Masken. Auch die Basler orientieren sich bis heute an der alte Fastenzeit, wonach die Sonntage nicht zur Fastenzeit gerechnet werden. Die katholischen Regionen hielten sich an die höchstkirchliche Anordnung – deshalb spricht man hierbei von der „Herren- oder Pfaffenfasnacht“.

3. Die Groppenfasnacht
In Ermatingen am schweizerischen Südufer des Untersees am Bodensee endet die Fasnacht erst drei Wochen vor Ostern, am „Sonntag Laetare“. Heuer übrigens wird sie zum 607. Mal begangen! Sie ist eine der traditionsreichsten Fasnächte der Ostschweiz.

Ganz allgemein war in der Fasnacht die Verkleidung meist simpel und einfach gewählt. Erst im 17. Jahrhundert wurde während des Barocks der Fantasie freien Lauf gelassen. Dies vor allem bei den Masken, die teilweise wahre Kunstwerke sind. Zudem wurde auch der Einfluss der italienischen Commedia dell’Arte immer wichtiger.

4. Der Karneval
Vielen wurde in der Zeit der Aufklärung die Fastnacht zu altbacken, manchen gar zu primitiv. Während der Romantik entwickelte deshalb das Bildungsbürgertum den Karneval. Das Wort „Karneval“ selbst leitet sich ab vom italienischen „carnevale“, das wiederum seinen Ursprung im kirchen-lateinischen „carnislevamen“ (Fleischwegnahme) hat. Die Enthaltsamkeit bezog sich übrigens im Mittelalter auch auf den Wein (nicht das Bier) und die Sexualität, weshalb diese ausschweifenden Tage wenig Anhänger in der Kirche fand. In der Karnevals-Hochburg Köln wurde er erstmals 1823 abgehalten. Der Haupttag des Karnevals ist stets der Rosenmontag, an dem kilometerlange Karnevalszüge durch die Städte ziehen. Daneben wird der Karneval selbstverständlich auch durch Sitzungen, v.a. aber in den Lokalen und Gasthäusern gefeiert. Der Karneval ist seit dem 19. Jahrhundert sehr politisch geworden. So wurden Kölner Karnevals-präsidenten wie Heinrich von Wittgenstein, Franz Raveaux oder auch der Bonner Universitätsprofessor und Büttenredner Gottfried Kinkel später Politiker. Büttenredner Karl Küpper beispielsweise erhob in der Saison 1937/38 auf dem Weg zur Bütt den rechten Arm zum „deutschen Gruss“ und sagte nicht „Heil Hitler“ sondern. „Nä, nä, su huh litt bei uns dr Dreck em Keller!“ (Nein, nein, so hoch liegt bei uns der Dreck im Keller!). Küpper erhielt lebenslanges Redeverbot, das 1944 wieder aufgehoben wurde. 1951 übrigens deutete er diesen Gruss erneut in der Bütt an und meinte: „Et es widder am rähne!“ Er meinte damit den Einfluss der NS-Elite in der neu gegründeten Bundesrepublik. Interessant ist übrigens die Tatsache, dass die Nationalsozialisten bis 1940 den Karneval nicht verboten hatten. Sie haben ihn instrumentalisiert. 1937 wurde der „Bund Deutscher Karneval“ gegründet. Karnevalsvereine, die diesem Dach-verband nicht angehörten, konnten fortan nurmehr geheim feiern. Männer durften nicht mehr in Frauenkleidern auftreten, antisemitische Parolen wurden in alle Reden eingebaut. 1938 erwähnte ein Büttenredner in der Mainzer Carnevalssitzung das Konzentrationslager Dachau, worauf die Live-Übertragung sofort abgebrochen wurde.

5. Der Fasching
In Österreich und Bayern wird Fasching gefeiert. Dieser setzt sich aus allen bislang aufgeführten Spielarten zusammen. Eingeläutet am 11.11. um 11.11 Uhr (die 11 ist seit jeher die „Narrenzahl“) werden zumeist ab dem 07. Januar Faschingssitzungen und Bälle abgehalten, während der Weihnachtszeit schläft der Fasching. Die grossen Strassenumzüge finden entweder am Faschingssonntag oder vor allem am Faschingsdienstag statt. Gereicht werden übrigens hierzu Faschings- oder Punschkrapfen. Auch im Fasching gibt es unzählige alte Brauchtümer, wie etwa das Fisser Blochziehen, bei dem ein 35 m langer Zirbenstamm gezogen werden muss oder der Ebenseer Fetzenzug, bei dem auf alten Frauenkleidern Lumpen genäht werden, die zu selbstgeschnitzten Holzmasken beim Umzug getragen werden. Beides gehört seit 2011 ebenfalls zum immateriellen Weltkulturerbe Österreichs nach UNESCO-Richtlinien. Ebenso wie der Ausseer Fasching mit seinem Flinserl, den Trommel-weibern und den Pless oder das Murauer Faschingsrennen, bei dem die bunten Figuren von Hof zu Hof marschieren. Viele dieser Faschings-Brauchtümer wurzeln jedoch in heidnischen Zeiten: Dadurch sollte Göttern gehuldigt und die bösen Geister vertrieben werden. Dies wird v.a. beim Allgäuer und Vorarlberger Brauch des Funkenabbrennens („Fast-nachtsfeuer“) am Sonntag nach Aschermittwoch bewusst. Auf einem riesigen Scheiterhaufen wird eine Hexe verbrannt. Explodiert sie laut, bedeutet dies Erfolg und Glück für das kommende Jahr. Fällt der Funken davor um, folgt ein Jahr voller Unheil. Der Vorarlberger Funken zählt seit 2010 zum immateriellen Weltkulturerbe nach UNESCO-Richtlinien. Fasching in Österreich ist also wesentlich mehr als Wiener Opernball oder Villacher Fasching.

Die Fastnacht, der Fasching und der Karneval haben sich inzwischen zu ganz entscheidenden Wirtschaftsfaktoren entwickelt. Alleine in Deutsch-land geben Frau Schmidt und Herr Müller jährlich rund 300 Millionen Euro nur für Kostüme und Verkleidungen aus, der Gesamtumsatz am Kölner Karneval wird alljährlich auf rund 460 Mio € geschätzt.
Auch in vielen anderen Ländern wie Frankreich, Italien, Polen, Kroatien, Brasilien und sogar Syrien wird diese Fünfte Jahreszeit gefeiert – ein mögliches Thema eines anderen Blogs.
Für die nächsten Wochen wünsche ich allen Narren und Jecken eine ausgelassene und närrische Zeit, wenn auch unter anderen Voraus-setzungen. Um Dieter Nuhr aus seinem Jahresrückblick zu zitieren:

„Im nächsten Jahr auch wieder mit den Ungeimpften, die dann ja wohl genesen oder nicht mehr unter uns sein werden!“

Lesetipps:

.) Das große Buch der schwäbisch-alemannischen Fastnacht. Ursprünge, Entwicklungen und Erscheinungsformen organisierter Narretei in Südwestdeutschland; Werner Mezger; Theiss 1999
.) Zur Geschichte der organisierten Fastnacht. Vereinigung Schwäbisch-Alemannischer Narrenzünfte; Wilfried Dold/Roland Wehrle u. a., DoldVerlag 1999
.) Schwäbisch-alemannische Fasnacht; Wilhelm Kutter; Sigloch 1976
.) Fastnacht/Karneval im europäischen Vergleich. (Mainzer Vorträge 3); Hrsg.: Michael Matheus; Franz Steiner Verlag 1999
.) Elf Uhr elf; Hrsg.: Theodor Barth, Ute Behrend, Thekla Ehling, Dirk Gebhardt, Matthias Jung, David Klammer, Frederic Lezmi, Nadine Preiß, Wolfgang Zurborn; Kettler 2014
.) Fastnacht, Fasching, Karneval. Das Fest der „verkehrten Welt“; Dietz-Rüdiger Moser; Edition Kaleidoskop 1986
.) Was auch passiert: D’r Zoch kütt! Die Geschichte des rheinischen Karnevals; Hildegard Brog; Campus 2000
.) Kölner Karneval. Zur Kulturgeschichte der Fastnacht; Peter Fuchs/Max-Leo Schwering; Greven Verlag 1972
.) Unangepasst und widerborstig. Der Kölner Karnevalist Karl Küpper, Fritz Bilz; Edition Kalk 2020
.) Die großen Fasnachten Tirols; Hans Gapp; Edition Löwenzahn 1996
.) Fasnächtliches Uri; Rolf Gisler-Jauch; Gisler 2005

Links:

– www.kulturrat.de
– www.alemannische-seiten.de
– www.vsan.de
– www.groppenfasnacht.ch
– www.unesco.de/kultur-und-natur/immaterielles-kulturerbe/immaterielles-kulturerbe-deutschland/fastnacht
– www.schwarzwald.com
– koelnerkarneval.de

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Trinkwasser – unser höchstes Gut gehört geschützt

Eine kleine Bewegung am Wasserhahn – schon läuft das klare Nass. Wie von selbst! Doch ist dem ganz und gar nicht so. Tatsächlich steckt ein immenser Aufwand dahinter, der mit dem Fassen der Quelle beginnt und in regelmässigen Qualitätskontrollen endet. In weiten Teilen Mittel-europas erfüllt das durchsichtige Gold die höchsten Qualitäts-anforderungen. Gesetzlich geregelt wird dies in Deutschland, der Schweiz und Österreich durch die jeweilige Trinkwasserverordnung, in der EU durch die „Richtlinie über die Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch“ (COM/2017/0753 final – 2017/0332 (COD)). Doch kann sich dieses Blatt sehr rasch wenden: Schlagwetter, Murenabgänge, Über-flutungen, Verkeimungen, Legionellen, Nitrate uvam. Ist es geschehen, sehen sich von einer Sekunde auf die andere hunderte Haushalte mit dem Problem konfrontiert: Woher nehme ich auf die Schnelle jene rund 130 l, die ein Mensch pro Tag an Wasser in Deutschland verbraucht. Zirka 70 Liter davon sind Brauchwasser, die durch die Toilettenspülung, die Waschmaschine oder die Dusche den Weg in’s Abwasser-Kanalsystem finden. Dies ist auch bei verkeimtem oder verschmutztem Wasser bis zu einem gewissen Grad noch verwendbar. Schwieriger wird’s da jedoch mit dem Wasser für den Saft, dem Kaffee oder Tee, dem Wasser zum Kochen oder Nahrungsmitteln reinigen, dem Wasser zum Zähneputzen – jenem Wasser also, das über den Mund in unseren Körper Einlass findet und dort für gesundheitliche Beeinträchtigungen oder gar teils ganz erheb-liche Krankheiten verantwortlich zeichnen kann. Die Folgen sind meist sehr kosten-, material- und personalaufwendig, schliesslich muss das komplette Netz gereinigt und gespült werden.
Im Folgenden werde ich etwas auf einige Umstände aufmerksam machen, die teils bewusst, teils unbewusst in Kauf genommen werden, jedoch verheerende Auswirkungen mit sich bringen können.

Schlagwetter und Murenabgänge
Die Klimakrise zeigt sich mannigfaltig. So auch bei Wetterereignissen mit Starkregen und Überflutungen. Zu viel Wasser in zu kurzer Zeit zeigt sich alsdann beim Grundwasser bzw. Quellwasser. Es kommt zu Trübungen durch Schlammpartikel. Auch Verkeimungen durch etwa Kolibakterien oder sonstigen Krankheitserregern werden immer wahrscheinlicher mit der Zunahme vor allem lokaler Gewitterzellen und fehlendem Wind. Maß-nahmen hiergegen zu setzen, ist zumeist unmöglich!

Rohrbrüche im öffentlichen Netz
Auch hiergegen kann nur wenig unternommen werden! Die Erfahrungen allerdings zeigten, dass bei privatisierten Wasser- und Abwasser-systemen die Zahl der Rohrbrüche eklatant ansteigt, da sich die Unter-nehmen wenig um die Instandhaltung der Systeme kümmern. Die Gewinne freilich werden eingestreift.

Landwirtschaftliche Intensivnutzung
Durch industrielle landwirtschaftliche Betriebe fallen Unmengen an Gülle und Mist an. Wird beides vor Regen oder zu häufig ausgebracht, sickert dies gemeinsam mit dem Regenwasser in das Grundwasser bzw. im Quellenschutzgebiet auch in das Quellwasser. Immer wieder werden deshalb zu hohe Nitratwerte im Trinkwasser gemessen. Dasselbe gilt übrigens auch für Pestizide, Fungizide oder Herbiziden, wie auch Glypho-sat!

Fracking
Beim Fracking (Gewinnung von Erdöl und Erdgas oder auch der Geothermie) werden Millionen Liter eines Sand-Wasser-Chemikalien-Gemisches (bis zu 600 unterschiedliche, grossteils hochgiftige Chemi-kalien) mit hohem Druck durch eine Bohrung in den Boden eingeleitet, damit Risse im Gestein entstehen oder bestehende Risse erweitert werden. Normalerweise geschieht dies in mehreren hundert oder gar tausend Metern Tiefe, sodass das Grundwasser davon nicht betroffen sein sollte. Dennoch kann es durch beispielsweise einem Absenken des Grundwasserspiegels oder Folgen des Drucks geschehen, dass sich diese hochgiftigen Substanzen mit dem Wasser mischen. Fracking ist in Österreich noch erlaubt, in Deutschland können bundesweit zu wissen-schaftlichen Zwecken vier derartige Versuchsmassnahmen in Schiefer-, Ton-, Mergel- oder Kohleflözgesteinen durchgeführt werden. Unter-suchungen in den USA brachten zu Tage, dass in manchen Regionen das Wasser derart verseucht war, dass es nicht mehr verwendet werden konnte. Mancherorts war es gar brennbar.

Bleirohre
Die Verwendung von Bleirohren war lange Zeit sowohl in Österreich als auch Deutschland im Wassernetz- und dem Hausbau Standard. Wasser-analysen hingegen zeigten, dass das Wasser durch das sich lösende Schwermetall schleichend und dauerhaft vergiftet wurde. Eine Bleiver-giftung zeigt sich vornehmlich durch Beeinträchtigungen des Nerven-systems, der Blutbildung und möglicherweise auch der Nierenfunktion. Dies führte 1973 in Deutschland zum bundesweiten Verbot solcher Rohre, in Süddeutschland gar schon vor 130 Jahren. In Österreich wurde die Verwendung von Bleirohren ebenfalls in den 1970er-Jahren verboten – in Wien begann der Ersatz im öffentlichen Wassernetz im Jahr 2007. Dennoch gibt es sie noch in Altbauten. Hier legt die Österreichische Trinkwasserverordnung BGBl. 304/2001 (in Umsetzung der oben genannten EU -Richtlinie 98/83 EG) seit 1. Dezember 2013 den Grenz-wert auf max. 0,01 Milligramm pro Liter fest. Für Vermieter besteht eine grundsätzliche Behebungspflicht.

Quellfassungen und Hausbrunnen
Vor allem in Streulagen (ländlicher Raum) mit hoher landwirtschaftlicher Nutzung ist das eigene Wasser unerlässlich, liegt doch der Wasser-verbrauch eines Bauernhofes weit über dem Normalverbrauch. In Niederösterreich beispielsweise verfügen rund 10 % der Einwohner über einen eigenen Hausbrunnen. Bei derartigen Einzelwasserversorgungs-anlagen ist der Besitzer selbst für die Wasserqualität und damit zusammenhängenden Massnahmen verantwortlich. Geht man nun davon aus, dass der Wasserbedarf einer 4-köpfigen Familie bei einer Quell-fassung mit 1 l/min getilgt wird, muss bei einer niedrigeren Ergiebigkeit ein Speicherbehälter angeschafft werden. Hier nun sollte auf jeden Fall eine Aufbereitungsanlage (etwa eine UV-Entkeimungsanlage) zwischen-geschaltet werden. Um eine Versorgungssicherheit zu gewährleisten und aus hygienischen Aspekten verfügen jedoch inzwischen viele auch über einen Anschluss an das öffentliche Hochdrucknetz – vornehmlich für das Wasser im Haushalt. Bei Häusern nahe der öffentlichen Versorgung besteht zumeist Anschlusszwang.

Retension
Hauptsächlich in Regionen mit hohem Regenaufkommen ist sog. „Retension“ (Retentionszisternen oder mit Rigolensystemen) beim Hausbau verpflichtend. Dies sind zumeist Sickerschächte oder Tanks, die im Garten in den Boden eingelassen sind und das Regenwasser vom Dach, aber unter Umständen auch das Sickerwasser bei versiegelten Flächen aus dem Garten zurückhalten oder in tiefere Bodenregionen weitergeben sollen, damit das Kanalnetz bei Schlagwetter nicht überlastet wird. Das Wasser soll dann gedrosselt zu einem späteren Zeitpunkt in das Kanalnetz abgegeben oder selbst als Giesswasser im Garten verbraucht werden. Ein Sickerschacht sollte mindestens 10, besser jedoch 40-50 m von einem eigenen Hausbrunnen oder einem Keller entfernt sein. Vor allem für den Sickerschacht, aber auch den Regenwassertank gilt: Es sollte nur das Dachregenwasser eingeleitet – alles andere muss gefiltert werden.

Nun gibt es jedoch so manchen Besitzer einer Hausquelle oder eines Retensionsbeckens, der sich Wasser- und v.a. Abwassergebühren sparen möchte und zu Regenzeiten oder der Schneeschmelze Wasser mittels einer Hochdruckpumpe zurück in das öffentliche Netz pumpt! Eine Unart, die geahndet werden muss. Schliesslich ist die öffentliche Hand für die Qualität dessen verantwortlich, was aus dem Wasserhahn in der Küche bzw. dem Bad Einsatz findet. Werden Hausquellen zumeist regelmässig geprüft, so handelt es sich bei Wasser aus Retensionsbecken um stehendes, nicht gesiebtem und alsdann unbehandeltem Regenwasser, das eigentlich in das Abwasserkanalsystem gepumpt oder zur Garten-pflege herangezogen werden sollte. Hier haben Keime, aber auch Legionellen beste Lebensvoraussetzungen. Wird dieses Wasser in das Trinkwassernetz gepumpt, so kann dies nicht nur für die eigene, sondern auch die Versorgung der weiteren Wassernutzer verheerende Konse-quenzen haben. Die öffentliche Hand reagiert inzwischen mit dem Einbau von Wasserzählern mit einem Rückflussverhinderer, wie dies auch beim Bau von Hydranten Einsatz findet. Dabei kann das Wasser nur in einer Richtung fliessen.

Ist nun das Trinkwasser belastet, ist das Abkochen des Wassers (5 Minuten auf Meereshöhe bei 100 Grad C – pro 1000 m Höhe 3,75 min länger, da der Siedepunkt pro 1000 m Höhe um 3,3 Grad C abnimmt) eine Massnahme, die allerdings nur in der ersten der folgenden Gruppen hilft:

.) Pathogene Mikroorganismen
– Bakterien (Escherichia coli, Salmonella typhimurium, Enterokokken, Vibrio cholerae, Legionellen
– Viren (Hepatitis A, Norwalk-Virus, Rota-Virus, Polio-Virus)
– Protozoen (Entamoeba histolytica, Giardia intestinalis, Cryptosporidium Parvum)
Beginnend bei Magen-Darm-Infekten, Salmonellen- und Legionärser-krankung bis hin zur Cholera und Ruhr werden durch solche Keime über-tragen.

.) Schwermetalle wie Blei oder Quecksilber
Diese lassen sich nur durch Destillation oder Flockung entfernen.

.) Dünger, Pestizide, Herbizide
Hierfür bedarf es eines Aktivkohlefilters.

.) Schwebestoffe
Zuerst filtern, dann durch etwa Chlor desinfizieren

Vor allem, wenn sich Babies im Haushalt befinden, sollte mit erhöhter Vorsicht agiert werden, da das Immunsystem der Kleinen noch nicht gegen solche Eindringlinge vorgehen kann. Aber auch bei Diabetikern sollte vor Gebrauch vor allem am Morgen das Wasser relativ lange laufen, sodass kein Standwasser (Stagnationswasser) getrunken wird. Sofern zuvor keine der angeführten Belastungen stattgefunden haben, müsste dies ausreichend sein.

Filmtipps:

– „Ist unserem Trinkwasser noch zu trauen?“ – WDR 2021
– „Wie belastet ist unser Trinkwasser“ – SWR 2020
– „Wie gut ist unser Trinkwasser?“ – WDR 2019
– „Mission Trinkwasser“ – ZDF (2021)
– „Gasland“ von Josh Fox (2010)

Lesetipps:

.) Pathogene Mikroorganismen im Grund- und Trinkwasser: Transport – Nachweismethoden – Wassermanagement; Hrsg.: Adrian Auckenthaler; Springer 2002
.) Vom Leitungswasser zu gesundem Trinkwasser: Dein Weg zu gesundem Wasser einfach & verständlich; dr. Michael Scholze; epubli; 2. Edition 2019
.) Wasseraufbereitung; Stefan Wilhelm; Springer 2008
.) Legionellen in Trinkwasser-Installationen: Gefährdungsanalyse und Sanierung; Arnd Bürschgens; Beuth 2018
.) Gebäudetechnik für Trinkwasser – Fachgerecht planen – Rechtssicher ausschreiben – Nachhaltig sanieren; Thomas Kistemann/Werner Schulte/ Klaus Rudat/Wolfgang Hentschel/Daniel Häußermann; Springer 2012

Linktipps:

– http://www.gesetze-im-internet.de/trinkwv_2001/BJNR095910001.html#BJNR095910001BJNG000201310
– https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20001483
– https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A52017PC0753
– https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2017/153/de
– info.bmlrt.gv.at/themen/wasser/nutzung-wasser/wasserversorgung/Trinkwasser.html
– www.umweltbundesamt.de/themen/wasser/trinkwasser
– www.ages.at/themen/umwelt/wasser/trinkwasser/
– https://www.trinkwasserinfo.at
– unicef.at/news/einzelansicht/21-milliarden-menschen-haben-keinen-zugang-zu-sauberem-trinkwasser/

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Zum Jahresende möchte ich mich für Ihre Treue und die vielen Clicks bedanken! Ich bin stets bestrebt, das Spektrum der Bereiche möglichst breit zu halten, sodass für jeden Geschmack etwas dabei sein sollte.
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Den nächsten Blog gibt’s am 07. Januar 2022!

Bleiben Sie gesund und munter!

Ulrich Stock

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