Mercosur – Erneute Pleite für heimische Produzenten?

Ein Handelsabkommen jagt das andere – bei den meisten auf Kosten der heimischen Produzenten. Doch zumeist interessiert dies die Verhandler nicht – sie haben nur das Dollar-Zeichen in den Augen, wenn es um Exportmöglichkeiten geht. Erst bei der Ratifizierung durch die nationalen Parlamente kann dieser eine Moment des kurzen Überlegens einsetzen, sofern derartige Abkommen abgelehnt werden. Oftmals allerdings ist den Volksvertretern gar nicht bewusst, über was sie da abstimmen. Schliess-lich gilt der Fraktionszwang! Zudem bedarf es eines Master-Titels in Volkswirtschaft, v.a. aber in Wirtschaftsenglisch um derartige Werke überhaupt lesen zu können. Oder – man darf sie gar nicht lesen – wie im gottlob nicht zustande gekommenen Handelsabkommen TTIP mit den USA!

JEFTA – das Handelsabkommen mit Japan trat am 01. Februar 2019 in Kraft, CETA – das Handelsabkommen mit Kanada am 21. September 2017 – Langzeitauswirkungen sind somit noch nicht ausmachbar. TTIP – die „Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft“ wurde 2019 durch die EU als „obsolet und nicht mehr relevant“ erklärt. Vorsehung? Schliesslich ist Donald Trump einer jener, der sich nicht an Verträge hält oder sie vorzeitig kündigt. Das werden ab 2025 auch Mexiko und Kanada zur Kenntnis nehmen müssen, wenn die Trump’sche Regierung Strafzölle auf Waren der beiden Länder erheben wird – trotz des Nordameri-kanischen Freihandelsabkommen NAFTA.

Und schon unterzeichnete dieser Tage Brüssel das nächste Abkommen: Mercosur! Ein Freihandels-Abkommen mit den lateinamerikanischen Mercosur-Mitgliedsstaaten. Für einen Markt mit zehn Prozent der Weltbevölkerung und 20 % des weltweiten BIPs. Seit zwei Jahrzehnten wird an diesem gefeilt – 2019 hätte es endlich unterschrieben werden sollen. Da legte Österreich ein Veto ein. Doch – dass dies nicht die einzige Kritik an einer künftigen Zusammenarbeit ist – das will ich in diesen heutigen Zeilen aufzeigen.

Die Geschichte von Mercosur („Mercado Común del Sur“ – Gemeinsamer Markt des Südens) begann am 26. März 1991 mit der Unterzeichnung des „Vertrages von Asunción“ mit dem Ziel eines südamerikanischen Binnenmarktes ohne Grenzen. Die Unterzeichnerstaaten damals waren Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay. Hinzu kam 2006 Venezuela. Drei Jahre später wurde das Abkommen mit dem „Protokoll von Ouro Preto“ konkretisiert. Trotzdem führte das Ende der 1990er-Jahre zu einem Stillstand. Zu Beginn des neuen Jahrtausends wurde deshalb ein „Neustart“ mit einer einhergehenden Stärkung der Zollunion nach innen und nach aussen durchgeführt.

Inzwischen hat sich einiges getan: Bolivien wurde 2023 Vollmitglied, Venezuela wurde am 1. Dezember 2016 dauerhaft suspendiert, Chile, Peru, Kolumbien, Ecuador, Suriname und Guyana geniessen als assoziierte Mitglieder nahezu Mitgliederstatus. Als Beobachterstaaten agieren Mexico und Neuseeland. Mercosur steht für über 260 Mio Menschen, steht aber auch für politisch sehr unsichere Mitgliedsstaaten, wie zuletzt Brasilien unter dem Rechtspopulisten Bolsonaro aufzeigte. Oder die Absetzung des Staatspräsidenten von Paraguay, Fernando Lugo 2012, die zu einer vorüber-gehenden Suspendierung des Landes führte. Mitglieder des Mercosur können nämlich nur demokratische Staaten sein bzw. werden („Protocolo de Ushuaia sobre Compromiso Democrático“). Zudem geht es auch zunehmend um eigene Interessen der Mitgliedsstaaten. So fühlt sich etwa Uruguay, aber auch Paraguay, durch die Statuten des Mercosur vor allem bezüglich bilateraler Handelsab-kommen mit anderen Ländern eingeschränkt. Diese sind laut Statuten eigentlich verboten.

Und es kriselt zudem in anderer, geschichtlicher Hinsicht: Immer wieder prallen Argentinien und Brasilien aufeinander, aber auch Chile und Bolivien („Salpeterkrieg“) sind sich sehr ans Herz gewachsen. Tja und dann wäre da noch Venezuela. Dort regiert seit 2013 der damals frei gewählte Staatspräsident Nicolás Maduro Moros, der sich jedoch (etwa durch die Entmachtung der Nationalversammlung) immer mehr zum Despoten bzw. Diktator entwickelt hat. Daraufhin beschlossen am 02. Dezember 2016 die Gründungsmitglieder die dauerhafte Suspendierung des Landes. Delcy Rodriguez, die damalige Aussenministerin Venezuelas, wollte noch am 14. Dezember 2016 am Mercosur-Treffen in Buenos Aires teilnehmen, wurde aber mittels Polizeieinsatz daran gehindert. Ein Vorgang, der jederzeit auch in anderen Mitgliedsstaaten vor sich gehen könnte. So spricht etwa die Deutsche Forschungsgemeinschaft in ihrer Demokratiematrix 2021 von einer defizitären Demokratie in Uruguay und einer moderaten Autokratie in Venezuela.

Jedes halbe Jahr findete ein Gipfeltreffen der Präsidenten der Mercosur-Staaten statt.

„Der Rat des Gemeinsamen Marktes tritt jedes Mal zusammen, wenn er es für sinnvoll erachtet, verpflichtend ist mindestens eine Sitzung im Semester unter der Beteiligung der Präsidenten der Mitgliedstaaten.“

(Art. 6 des Protokolls von Ouro Preto)

Mit den USA wird schon seit langer Zeit über eine gesamtamerikanische Freihandelszone (FTAA) verhandelt – doch wer Washington kennt, weiss: Unter Vorgaben der US-Amerikaner! Mit der EU besteht seit dem 15. Dezember 1995 ein Assoziierungsabkommen. Zu Beginn erschwert wurde das Prozedere, da es kein einheitliches Mercosur-Verhandlungsteam gab, sondern die Gründungsstaaten jeweils ein eigenes Team abstellten. Durch neue Regierungen dort kam es immer wieder zu teils gegen-sätzlichen Interessen. 2004 schliesslich wurde mit dem Abschluss der Verhandlungen gerechnet – jedoch forderten die Mercosur-Staaten für ihre Agrarprodukte den Zugang zum europäischen Markt. Dies reduzierte die Gespräche auf eine rein technische Ebene. In der DOHA-Runde versuchte die WTO zu vermitteln, was jedoch nicht wirklich von Erfolg gekrönt war. 2017 stimmte die EU laxeren Kontrollstandards bei Lebensmittelimporten zu, wenn im Gegenzug dafür mehr Autos nach Südamerika exportiert werden dürfen. Ende Juni 2019 schliesslich lenkte die EU ein („agreement in principle“). Vornehmlich die deutsche Auto-industrie jubelte, die Bauernverbände hingegen kritisierten lautstark die Entscheidung, da es eine Wettbewerbsverzerrung zu Ungunsten der heimischen Bauern bedeute. Der damalige österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz legte daraufhin sein Veto ein. War Kurz zumindest politisch alleine, so erhielt er durch wissenschaftliche Einrichtungen Zustimmung: Das Abkommen widerspräche den drei Grundprinzipien des „European Green Deals“:

.) Bis 2050 keine weiteren Netto-Treibhausemissionen

.) Entkoppelung des Wirtschaftswachstums von der Ressourcennutzung

.) Keine Benachteiligung von Gruppen oder Regionen durch die wirt-schaftliche Entwicklung.

Der Meinung schlossen sich das Helmholtz-Zentrum für Umwelt-forschung, das Senckenberg Biodiversität und Klima-Forschungszentrum und auch die Humboldt-Universität Berlin an.

Durchaus nach wie vor ein schwergewichtiger Streitpunkt. Agrarprodukte bedeutet für die lateinamerikanischen Länder heute vornehmlich Soja, Rindfleisch und Mais. Für den Anbau von Soja und Mais, aber auch für Grünfläche in der Rinderzucht wird wertvoller Regenwald zumeist brand-gerodet. Daneben hat die EU genug Rindfleisch, wie die grauenvollen Rindertransporte in den Nahen Osten immer wieder aufzeigen. Und zuguterletzt scheren sich die südamerikanischen Produzenten nicht im geringsten um die Rechte ihrer Arbeiter – hier kommt es zu enormem Sozial- und Lohndumping. Doch nicht nur in der EU gab es kritische Stimmen – auch die Schweiz sah sich mit ähnlichen Fragen konfrontiert, verhandelte Mercosur doch parallel dazu auch mit den EFTA-Staaten. So titelte am 23. Dezember 2017 die eidgenössische Bauernzeitung: „Wer will Fleisch aus Südamerika?“

Zu den Punkten im Einzelnen:

.) Abholzungen und Rodungen

Unter der Regierung des rechtspopulistischen Bolsonaro wurde in Brasilien so viel Amazonas-Regenwald wie noch nie gerodet. Die dadurch freigesetzte Anbaufläche ist aber nur für wenige Jahre nutzbar und liegt schliesslich brach. Der Regenwald jedoch hat eine enorme Bedeutung für das Weltklima. Wird nun der Absatz von Soja, Mais und Rindfleisch erhöht, so wird wohl noch mehr Regenwald zerstört werden, auch wenn dies wie vor Bolsonaro gesetzlich verboten ist. Aber auch die Savannen-wälder am brasilianischen Cerrado und die Trockenwälder des argen-tinischen Gran Chaco werden dies wohl nicht überstehen. Das EU-Gesetz vom Dezember 2022, wonach Waren in der EU nicht verkauft werden dürfen, wenn für deren Herstellung Regenwald geopfert wurde, sei mit einem lautstarken Lachen quittiert. Schliesslich wird Soja nach wie vor verkauft – auch Hühnerfleisch oder Zuckerrohr. Zudem stehen bereits Bergbau-Unternehmen Schlange, die an die Rohstoffe unter den Wäldern wollen und dabei keinen Wert auf Klima- und Regenwaldschutz legen. Ähnlich wie das Klima nähert sich auch der Amazonas Regenwald einem Punkt, an dem er zu kippen droht – das eigentlich selbsterhaltende Öko-system bricht zusammen. Dann wird es kein Zurück mehr geben.

.) Agrarprodukte

Mais und Rindfleisch werden auch in Deutschland und Österreich „produziert“. Sogar mehr, als regional gebraucht wird. So weist die Statistik Austria zum 01.12.2023 einen Rinderbestand von 1,84 Mio (25.600 Tiere weniger als im Jahr zuvor) auf, das Statistische Bundesamt Deutschland zum 01.11.2023 10,8 Mio (Tendenz ebenfalls sinkend). Gründe dafür sind sicherlich u.a. das Bauernsterben und die Neu-orientierung bei den Ess- und Lebensgewohnheiten. Neben den unmenschlichen Rinderexporten zeigt auch die Vergasung von Mais anstelle der Einbindung in die Nahrungskette auf, dass zuviel davon da ist. Kommen nun noch mehr Billigfleisch, Soja und Mais über den grossen Teich nach Europa, so muss durchaus mit einer Existenzbedrohung der verbliebenen Vieh- und Ackerbauern gerechnet werden. Eine gemein-same Studie von Greenpeace und Misereor geht davon aus, dass durch Mercosur der Import von Rind- und Hühnerfleisch jeweils um die Hälfte zunehmen wird.

.) Bioethanol

Dieser wird in Lateinamerika massenweise aus Zuckerrüben gewonnen. Sollte nun Europa damit überschwemmt werden (die zuvor ange-sprochene Studie von Greenpeace und Misereor geht von einer Versechs-fachung aus), so wird sich dies durchaus kontraproduktiv auf die weitere Nutzung von Biogas aus Gülle und Mist auswirken. Bereits heute könnte wesentlich mehr davon produziert und genutzt werden – das billige Erdgas aus Russland hatte dies bis zum Ukrainekrieg unterbunden. Anstatt dessen entweicht Methan einfach nach wie vor in die Umwelt, wo es wesentlich aggressiver als CO2 das Klima beeinflusst.

.) Standard und Arbeitsschutz

Viele der Produkte aus Lateinamerika entsprechen nicht den EU-Standards, die jedoch von hier ansässigen Produzenten eingehalten werden müssen. Hierzu zählen neben dem vermehrten Einsatz von Pestiziden (die in der EU nicht mehr zugelassen sind) selbstverständlich auch die gerechte Entlohnung und zumutbaren Verhältnisse der Arbeiter. Während hierzulande Mindestlöhne eingehalten werden müssen, liegt die Entlohnung der lateinamerikanischen Landwirtschaftsarbeitern weit darunter. Dies führt zu einer enormen Wettbewerbsverzerrung, die durch qualitative Unterschiede schlussendlich auch den Konsumenten treffen wird.

.) Klimaschutz

Wenn auch der Klimaschutz in Südamerika möglicherweise eingehalten wird, so wird dies durch den Transport über tausende von Kilometern wieder zunichte gemacht. So hat ein Apfel aus brasilianischer Erzeugung, ein Steak aus argentinischer oder gar Grillkohle aus Paraguay einen wesentlich grösseren CO2-Fussabdruck als dieselben Produkte aus heimischer Erzeugung. Ja – richtig gelesen: Grillkohle! Paraguay exportiert jährlich Grillkohle im Wert von 40 Mio US-Dollar, damit Herr Schmidt in Buxtehude seiner samstäglichen Lieblingsbeschäftigung nachgehen kann.

Für die neue Verhandlungsrunde forderte Brüssel eine beschleunigte Durchsetzung durch ein Splitting der Assoziierungsabkommen. Am 06. Dezember hat Kommissionspräsidentein Ursula von der Leyen den Vertrag unterschrieben. Soll heissen, dass die EU-Mitgliedsstaaten vor vollendete Tatsachen gestellt werden und keinerlei Mitspracherecht mehr besitzen. Die Meinungen hierzu sind unterschiedlich: Während die kränkelnde deutsche und österreichische Industrie den Vertrag befür-worten, weinen die Landwirtschafts- und Arbeitnehmervertretungen bittere Krokodilstränen.

Unterstützt wird dies alsdann vom „Trend zur Deglobalisierung“. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass eine zu grosse Abhängigkeit von weltweiten Handelsströmen existenzbedrohend werden kann. Die Produktionen werden wieder zurückgeholt. Dies bescheinigt das Kieler Institut für Weltwirtschaft anhand der harten Wirtschaftsdaten. Die Tatsache blieb auch Buenos Aires und Brasilia nicht verborgen: Seit 2021 stagnieren die argentinischen Exporte und auch Brasilien musste zuletzt einen spürbaren Rückgang verzeichnen. Durch eine rasche Umsetzung der Freihandelszone mit der EU könnte dem entgegen gewirkt werden.

Trotzdem gab es zuletzt in der EU einen spürbaren Gegenwind. Den Bedenken Österreichs haben sich Frankreich und Belgien angeschlossen. Für den Vertrag hingegen ausgesprochen hat sich der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz. Kein Wunder, machen doch die Exporte von Produkten aus dem Maschinen- und Fahrzeugbau rund ein Drittel der Gesamtexporte aus. Das käme der bundesdeutschen Industrie sehr zugute. Allerdings besteht eine Zwickmühle für den Koalitionspartner Bündnis 90/Die Grünen, die noch 2019 lautstark zum Ausdruck brachten: „… fatale Entscheidung für Klimaschutz und Menschenrechte“ – nachzulesen etwa in „Der Stern“ vom 29. Juni 2019.

In anderer Richtung ist die EU schon jetzt der wichtigste Absatzmarkt der Mercosurstaaten. Sie liefern vornehmlich Produkte aus der Landwirt-schaft, Lebensmittelindustrie und dem Bergbau. Zudem will Argentinien auch einen verlässlichen Abnehmer für das aus Fracking gewonnene Flüssiggas – inzwischen ein entscheidender Köder für die EU!

Nicht, dass Sie mich nun falsch verstehen: Eine intensivere Zusammen-arbeit zwischen Lateinamerika und Europa ist durchaus wünschenswert. Allerdings hat gerade der Fall Bolsonaro aufgezeigt, dass das politische Abkommen zwischen beiden Kontinenten, die „biregionale Partnerschaft der EU mit den Staaten Lateinamerikas und der Karibik („Comunidad de Estados Latinoamericanos y Caribeños“, CELAC)“, sehr rasch zu Schall und Rauch werden kann und das Papier mehr wert ist als die darauf enthaltene Unterschrift. Zudem – wenn ein Abkommen auf dem Rücken und zu Ungunsten der Bevölkerung geschlossen wird – sollten die Volks-vertreter lautstark auf ihre eigentliche Funktion hingewiesen werden.

Lesetipps:

.) Lateinamerika im internationalen System. Zwischen Regionalismus und Globalisierung; Hrsg.: Bodemer/Gratius; VS Verlag für Sozialwissen-schaften 2003

.) Die Freihandelszone zwischen Mercosur und EU. Eine von Hindernissen geprägte Kooperation; Silvia Hunger; VDM Verlag Dr. Müller

.) Der Mercosur. Wirtschaftliche Integration, Unternehmer und Gewerk-schaften; Wolfram Klein; Arnold-Bergstraesser-Institut 1996

.) Der Mercosur in der Weltökonomie. Eine periphere Handelsgemein-schaft in der neoliberalen Globalisierung; Ingo Malcher; Nomos 2005

.) Der Mercosur. Rechtsfragen und Funktionsfähigkeit eines neuartigen Integrationsprojektes und die Erfolsaussichten der interregionalen Kooperation mit der Europäischen Union; Ulrich Wehner; Nomos 1999

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