30 Jahre – trotzdem kein Grund zum Feiern

†In diesen Tagen feierten die Tafeln Deutschland 30 Jahre Dienst am Menschen. Doch ist den vielen Mitarbeitern und den noch wesentlich mehr Ehrenamtlichen nicht wirklich zum Feiern zumute. 30 Jahre Tafeln bedeutet 30 Jahre Lebensmittelverschwendung und 30 Jahre Armut im ansonsten so reichen Deutschland. Zudem wird es immer schwieriger, das Angebot aufrechtzuerhalten. Supermärkte kalkulieren strenger, die Preise steigen und mit ihnen auch die Zahl der Hilfesuchenden – gerade jetzt nach einem Jahr Ukrainekrieg.

1993 wurde in Berlin durch die Initiativgruppe Berliner Frauen e.V. mit Sabine Werth die erste Tafel mit dem Ziel gegründet, nicht mehr verkauf-bare, überschüssige Lebensmittel v.a. an die vielen Obdachlosen in der Stadt weiterzugeben. Unterstützung erhielten die Frauen dabei durch die Lebensmittelproduzenten und Einzelhändler. Die Medien griffen dies auf und es dauerte nicht lange, bis ähnliche Organisationen gegründet wurden. Die beiden ersten davon in München und Neumünster. Inzwischen sind es deutschlandweit über 960 mit nicht weniger als 60.000 Helferinnen und Helfern – das grösste sozio-ökonomische Unter-nehmen zwischen Flensburg und Garmisch-Partenkirchen. 90 % dieser Helfer agieren ehrenamtlich, also unentgeltlich, wie auch der ehemalige deutsche Fussballinternationale Paul Breitner mit Frau jeweils am Montag bei einer Tafel in München.

Unterstützt wurden im Jahr 2022 dadurch zwei Mio Menschen – Tendenz stark steigend (ein Plus von 50 % im Vergleich zum Vorjahr)! Ein Drittel davon sind übrigens Kinder und Jugendliche.

„Zeitweise hatten in diesem Jahr rund 30 Prozent der Tafeln einen Auf-nahmestopp. Mehr als 70 Prozent der Tafeln haben zudem angegeben, dass sie weniger Lebensmittel haben.“

(Bundesvorsitzender Jochen Brühl)

Sie alle gehören dem Dachverband „Tafel Deutschland e.V.“ an. Jährlich werden durch sie rund 265.000 Tonnen Lebensmittel gerettet, die ansonsten wohl im Müll gelandet wären. Hinzugekauft wird nichts, gekaufte Sachspenden von Helfenden werden jedoch gerne angenommen. Auch dem Ausland blieb das Erfolgsrezept nicht verborgen: In der Schweiz gründeten sich die „Stiftung Schweizer Tafel“ und „Tischlein deck‘ Dich“, in Österreich die „Wiener Tafeln“, die „Salzburger Tafeln“, die „Pannonische Tafel“ bzw. in Vorarlberg „Tischlein deck‘ Dich“. Im süd-afrikanischen Kapstadt wurden mit „Feedback“, im australischen Sydney mit der „Food Bank“ ähnliche Organisationen gegründet.

Unzählige Spender und Sponsoren (wie die Unternehmensberatung McKinsey oder die Stiftung Deutsche Klassenlotterie) unterstützen die Tafeln finanziell, sodass Mieten und auch Betriebskosten bzw. Fahrzeuge bezahlt werden können. Die öffentliche Hand hielt sich (mit Ausnahme einiger Gemeinden) lange mit Zuwendungen zurück. Verweisen aber sehr wohl darauf. Wie etwa bei jenem Arbeitslosen, der im Jobcenter meinte, wie er mit diesem Geld überleben solle. Darauf meinte der Berater: „Dann gehen Sie doch zur Tafel!“

„Tafeln unterstützen manchmal nicht nur, sondern werden schon fest einkalkuliert.“

(Bundesvorsitzender Jochen Brühl)

Inzwischen werden einzelne Projekte des Dachverbandes durch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, dem Bundes-ministerium für Bildung und Forschung sowie indirekt durch Zahlungen der Europäischen Union gesponsert.

Berechtigte (Berechtigungsausweis als Nachweis lt. Abgabenordnung § 53 und lokalen Begebenheiten) können nicht nur billiger oder gar kostenfrei bei den Tafeln einkaufen. Das Angebot wurde dank der vielen Freiwilligen erweitert: Mancherorts gibt es einen Mittagstisch (17 % der Tafeln bieten eine Suppenküche), Kinderbetreuung und Nachhilfeunterricht. Kein gutes Zeichen für die vielen überbezahlten Volksvertreter, die nach wie vor der falschen Auffassung sind, dass die Sozialmassnahmen des Bundes und der Länder ausreichen, ein Fallnetz zu bilden.

„Über 70 Prozent der Tafel bekommen weniger Lebensmittel – ich sage es nochmal – bei immer mehr Kundinnen und Kunden. Da sehen wir die Politik in der Verantwortlichkeit, denn es ist nicht unsere Aufgabe, Menschen zu versorgen.“

(Bundesvorsitzender Jochen Brühl)

Und – in den immer länger werdenden Schlangen vor den Tafeln sind nicht nur Flüchtlinge oder Arbeitsfaule zu finden. Immer mehr allein-erziehende Mütter, Senioren und Menschen, die einer Arbeit nachgehen, deren Gehalt aber zum Überleben nicht ausreicht, stehen ebenfalls teils stundenlang an. Viele weigerten sich bislang aus Stolz oder Scham, das Angebot anzunehmen. Durch die durch die Gierflation eingeleitete Teuerungswelle bleibt ihnen aber nichts anderes mehr übrig.

Die Tafeln selbst unterscheiden sich regional. Nicht nur im Angebot, sondern zudem in den Öffnungszeiten und den Serviceleistungen. So werden neben der Lebensmittelausgabe auch Projekte (wie eine kosten-lose Schulspeisung) oder Möbelbörsen angeboten.

Im Jahr 2006 gründete Claudia Hollm die Tiertafel Deutschland e.V., die Futter kostenlos an mittellose Tierbesitzer verteilt. Solche Tiertafeln gibt es inzwischen in den meisten deutschen Bundesländern – in Österreich bekannt als „Futterbox“. Auch eine Medikamententafel für verschrei-bungsfreie Arzneimittel unterstützt die Armen.

30 Jahre Lebensmittel retten und Menschen helfen (die Mission der Tafeln) – das gebührt grössten Respekt gegenüber der dort kostenlos Arbeitenden, sollten aber dennoch zum Überlegen anregen. Milliarden werden jedes Jahr in die Entwicklungshilfe für Afrika, Asien und Latein-amerika gesteckt, doch zuhause wird weiterhin verschwendet und trotz-dem steigt die Armut. Umso irrsinniger ist die Rechtssprechung: Con-tainern ist zwar inzwischen erlaubt, nicht jedoch auf dem Betriebsgelände des Unternehmens (Besitzstörung, Hausieren,…). Hier geht es nach wie vor um juristische Spitzfindigkeiten wie:

„… der Entsorgung überführt werden“ sollten, aber noch nicht in einen Abfallcontainer geschafft wurden, sondern ohne Überdachung in hohen, nach oben hin offenen Gitterwagen auf dem vollständig umzäunten „Gelände des R-Marktes“ lagerten.“

(Amtsgericht Düren)

Stellt also ein umsichtiger und humaner Marktleiter die nicht verkauften Lebensmittel möglicherweise in einem eigenen Karton auf die Strasse, so lockt er damit Ungeziefer wie Ratten an und wird insofern belangt. In einem nicht verschlossenen Container auf der Strasse agiert er gegen das Abfallwirtschaftsgesetz. Zudem könnte er ja auch belangt werden, wenn eine Person aufgrund des Containern zu gesundheitlichen Schäden kommt.

Das ist also die Vorstellung über soziale Absicherung der Bevölkerung aus der Bundes- und den Landeshauptstädten!

Die Produktion von Lebensmitteln ist sehr aufwendig und teuer. Millionen Menschen hungern auf anderen Kontinenten. Ihnen kann mit diesen Lebensmitteln nicht geholfen werden. Den Armen hierzulande jedoch sehr wohl. Nahrungsmittel sind zu wertvoll um weggeworfen zu werden. Die Tafeln übernehmen durch ihre Arbeit soziale Verantwortung – ein Wert, der vielen Menschen inzwischen abhanden gekommen ist. Auch Sie können helfen. Nehmen Sie einfach Kontakt mit der nächsten Tafel in Ihrer Umgebung auf. Geld- oder Sachspenden – aber auch Arbeit und Zeit – die Tafeln sind froh über jede Hilfe. Jochen Brühl übrigens, der Vorstand des Bundesverbandes, ist Sozialarbeiter, Diakon und Fundraiser. Er übt seine Funktion ehrenamtlich aus – dafür stellt ihn sein Arbeitgeber stundenweise frei.

Filmtipp:

– DAS! – NDR vom 09.12.2022

Lesetipps:

.) Tafeln im flexiblen Überfluss, Ambivalenzen sozialen und ökologischen Engagements; Hrsg.: Stephan Lorenz; transcript Verlag 2012

.) Tafeln in Deutschland – Aspekte einer sozialen Bewegung zwischen Nahrungsmittelumverteilung und Armutsintervention; Stefan Selke; VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009

.) Zwischen Mitleidsökonomie und Professionalisierung – Tafeln in wirtschaftsethischer Perspektive; Hrsg.: Alexander Dietz/Stefan Jung/ Daniel Wegner; LIT 2021

.) TafelGesellschaft. Zum neuen Umgang mit Überfluss und Ausgrenzung; Hrsg.: Stephan Lorenz; transcript verlag 2010

.) Fast ganz unten – Wie man in Deutschland durch die Hilfe von Lebens-mitteltafeln satt wird; Stefan Selke; Verlag Westfälisches Dampfboot 2009

Links:

Leave a Reply


WP Login