Männliche Gewalt – Waffenschein für den Penis?

„Kriege zum Beispiel sind eine Erfindung von sesshaft gewordenen männerdominierten Gesellschaften.“
(Klaus Theweleit, Kulturtheoretiker)

Die Zahlen sind ernüchternd: In der Europäischen Union hat jede dritte Frau seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt erfahren. 55 % der Frauen haben seit ihrem 15. Lebensjahr eine Form der sexuellen Belästigung erlebt. Die Zahlen für Deutschland und Österreich sind ähnlich: In Deutschland waren es 40 % bzw. jede siebte Frau (ab dem 16. Lebensjahr), in Österreich 20 % bzw. gar jede dritte Frau!
Soweit das Ergebnis der FRA-Studie „Gewalt gegen Frauen: Eine EU-weite Erhebung“ aus dem Jahr 2014 – befragt wurden 42.000 Frauen – von Zypern bis Irland. Die „Agentur der Europäischen Union für Grundrechte“ (FRA) ist eine unabhängige Agentur der EU, die es sich zum Ziel setzt, den Organen Brüssels unabhängige, faktengestützte Information für die Grundrechtsberatung zur Verfügung zu stellen. Die Zahlen untermauern die Vermutung, dass Frauen in unserer patriarchalischen Gesellschaft stets die unterlegenen sind. Als Täter werden dabei vornehmlich Männer in den Fokus genommen. Doch sollte dies nicht derart pauschaliert werden: Es gibt auch Gewalt an Männern durch Männer, jedoch ebenso durch Frauen. Vor allem Zweiteres wird zumeist komplett ausgeblendet, ist jedoch real durchaus existent. So zeigen Dunkelfelduntersuchungen aus Deutschland, dass zumindest in Beziehungen Parität herrscht, obgleich es unsere auf Rollenbildern ausgerichtete Gesellschaft eigentlich ausschliesst.
Im Jahr 2021 wurden in Österreich 31 Frauen ermordet – die meisten von ihren Partnern oder Ex-Partnern. In Deutschland waren es 104 sog. „Femizide“ – zusätzlich wurden 23 Kinder umgebracht (Stand: 08.12.2021). Die Auswertungen der Gespräche der Krisenhotlines vermitteln ein düsteres Bild: Während der Pandemie nahm die Gewalt in den Haushalten eklatant zu. Gewalt – nicht nur physischen, sondern auch psychischen Ursprungs. Dabei steht jedoch unumstritten fest, dass handgreifliche Gewaltausbrüche vornehmlich durch Männer begangen werden. Dies weiss auch der Psychotherapeut und Gewaltexperte Alexander Haydn von der Wiener Männerberatung: 90 % der ausge-sprochenen Betretungsverbote betrifft Männer in Beziehungen oder Ehen, die restlichen zehn Prozent Frauen oder Jugendliche, die gewaltsam gegen ihre Eltern vorgehen. Allerdings, so Haydn, muss stets auch der „Impact“ (die Wirkung) mit einbezogen werden, der sich unmittelbar von der Statur der Betroffenen ableitet. Soll heissen: Schlägt die meist körper-lich unterlegene Frau zu, so hat dies eine komplett andere Wirkung, als der vergleichbare Schlag eines körperlich überlegenen Mannes. Dennoch gibt es dominante Frauen, die in der Beziehung nicht davor zurück-scheuen, während eines Streites auch handgreiflich zu werden. Viele betroffene Männer allerdings scheuen sich davor, dies kundzutun, da sie dann als nicht mehr männlich eingestuft werden.
Zurück somit zum Rollenbild. Jahrtausende alte, gesellschaftliche Konditionierungen prägen die gesellschaftliche Rollenstereotype schon in jungen Jahren. So erfahren die Kleinen zumeist von Verwandten und Bekannten, aber auch durch die Medien, dass die Puppe wohl mehr den Mädchen Spass macht, während die Buben lieber zu den Autos und Soldaten greifen. Mädchen werden erzogen, lieb und hübsch für andere zu sein, Buben hingegen sollen stark sein und keine Gefühle zeigen. Die „gendersensible Pädagogik“ beschäftigt sich mit dieser Überlegung und versucht den Kindern eine freie Entwicklung zu bieten. Schliesslich sollen dadurch die alteingesessenen Stereotype aufgebrochen werden: Mann – ehrgeizig, nach aussen agierend, kämpferisch; Frau – passiv, zurück-haltend, beschützend. Während Mann unter zu viel Druck und Anspannung explodiert, wird Frau depressiv und zeigt gar ein selbstschädigendes Verhalten.
Dies mag sehr vieles erklären, doch ist männliche Gewalt nicht dermaßen einfach gestrickt wie die Geschlechterzuschreibung es möglicherweise darstellen mag. So betont die u.a. auf Gender und psychische Störungen spezialisierte Professorin für Sozialwissenschaftliche Psychiatrie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, PD Dr. rer.soc. Anne Maria Möller-Leimkühler, in ihrem Artikel „Psychosoziale Determinanten männ-licher Aggression und Gewalt“ (Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie, 2010):

„Männliche (physische) Aggression und Gewalt sind multikausale Phänomene, die nur interdisziplinär verstanden werden können.“

Dabei müsse das Zusammenspiel von Risikofaktoren wie Männlichkeits-ideologien, Gewalterfahrungen in der Kindheit, Sozialisationsdefizite, der Konsum von Mediengewalt und soziale Anerkennungsdefizite als Ursache für die Gewaltbereitschaft vor allem männlicher Jugendlicher berück-sichtigt werden. Durch den Gewinn an Macht und Status sollen etwa unerfüllte Bindungsbedürfnisse aber auch bedrohte männliche Identität kompensiert werden. Nur eine von rund 30 Theorien aus Studien über die Ursache der männlichen Gewalt. Die Anti-Gewalt-Trainings (AGT) – vor-nehmlich in der Resozialisierung von Straftätern – setzen in dem Bereich an. Bei dieser Massnahme sollen Betroffene lernen, impulsives Verhalten wieder unter Kontrolle zu bekommen. Doch unterziehen sich die wenigsten freiwillig einer solchen Therapie – die meisten werden durch Gerichte zugewiesen.
Ähnlich auch das Ergebnis der Fachtagung „Geschlecht-Gewalt-Gesell-schaft“ der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt aus dem Jahr 2003:

„So zeigt sich beispielsweise, dass Konflikte und Widersprüche in den Biographien von Gewalttätern einen viel grösseren Einfluss auf die Entstehen von Gewalt haben, als das Geschlecht eines potenziellen Täters.“
(Dr. Thomas Pleil)

Ist bei Gruppenzugehörigkeiten der Betroffenen die Gewalt an sich unab-hängig vom Bildungsgrad, so ist es deren Motivation. Ein Täter mit hohem Bildungsgrad verwendet sie für seinen Machterhalt bzw. -zugewinn, während ein Täter mit geringem Bildungsniveau vornehmlich durch das Erreichen eines höheren Statuses bzw. besserer materieller Zuwendungen motiviert wird. Der emeritierte Professor für Sozialisation am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld, Wilhelm Heitmeyer, spricht in diesem Zusammenhang von „sozialer Desintegration“: Mit dem Grad der Desintegrationserfahrungen und -ängste steigt das Ausmaß und die Intensität der Konfliktbereitschaft, während die Regelungsfähigkeit abnimmt. Derartige Desintegrationserfahrungen betreffen alsdann die körperliche Unversehrtheit, die soziale Sicherheit und Anerkennung in der Gesellschaft.
Eine Sonderstellung nehmen sicherlich die Hooligans ein: Vornehmlich junge Männer treffen sich zumeist (aber nicht ausschliesslich) im Umfeld von Fussballspielen zu Massenschlägereien. In diesen Schlägertrupps finden sich die unterschiedlichsten sozialen Schichten wieder. Der Journalist Bill Buford hatte sich in eine solche Gruppe eingeschlichen. Er beschreibt es als „Lustgewinn“: Das „Kickerlebnis“ sorge für einen gewaltigen Adrenalinausstoss, der schliesslich zu einer Sucht, einem Rausch führe. Die zugrunde liegende Motivation dürfte in diesem Falle jedoch in einer Art von Wettkampf liegen, während die Gewaltbereitschaft vornehmlich bei jungen Männern ansonsten durch ein geringes Selbst-wertgefühl zustande kommt, das unter Umständen durch misslungene Beziehungen oder der Ablösung von der Mutter ganz allgemein auf Frauen zielgerichtet ist.
Angesichts der Ausschreitungen und Plünderungen am 20./21. Juni 2020 in Stuttgart/Mitte, wobei bis zu 500 zumeist männliche Jugendliche eine Spur der Verwüstung hinterliessen, betont die leitenden Psychologin der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an der RWTH Aachen, Ute Habel:

„Aggression ist letztlich Teil unseres Verhaltensrepertoires, das ist eine Emotion, und Emotionen haben eigentlich eine wichtige Bedeutung für das Überleben.“

So könne eine Aggression jederzeit durch beispielsweise Provokation ausgelöst und in entsprechenden Gruppen verbreitert bzw. verstärkt werden. Dies gilt sowohl bei Männern als auch bei Frauen. In Stuttgart dürften es wohl die Drogenkontrollen durch die Polizei sowie das Fallen der Grenzen durch Alkoholeinfluss bei den Betroffenen gewesen sein.

Durch die nach wie vor geltende Definition von Gewalt sind vermehrt Männer bei der Ausübung von körperlicher Gewalt und Verletzungen zu beobachten. Wird der Gewaltbegriff jedoch um die Kategorien Mobbing, Stalking, verbale und psychische Gewalt erweitert, so fällt das Verhältnis eindeutig zu „Ungunsten“ der weiblichen Täterschaft aus, weiss Prof. Dr. Ulrike Popp vom Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungs-forschung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Bei der Darstellung von Gewalt in den Medien würden diese Kategorien jedoch zumeist nicht dargestellt. Dennoch sollte dies nicht täuschen: Jegliche Gewalt ist zerstörerisch! Allerdings zeige sich verstärkt mit dem Gesellschafts-wandel auch ein Wandel der geschlechtstypischen Verhaltens-erwartungen. Kirsten Bruhns vom Deutschen Jugendinstitut spricht in diesem Zusammenhang von einer „Neupositionierung im Geschlechter-verhältnis“, die sich vornehmlich bei jungen Frauen oder Mädchen in gewaltbereiten Jugendgruppen zeige.

Die Genetik hat inzwischen nachweisen können, dass sich negative Kindheitserlebnisse (Gewaltszenen als Schlüsselfaktoren) durchaus auch auf Gene übertragen lassen und schliesslich verantwortlich für ein grösseres Aggressionspotential bzw. Gewaltbereitschaft sein können. Dabei sollte jedoch das Lernen nicht ausgeschlossen werden: Erkennt das Kind an Vorbildern, dass Gewalt zum positiven Erfolg führt, so wird es vermehrt auf diese Strategie zurückgreifen (klassische Konditionierung).

Aggressivität und Gewaltbereitschaft nur auf den Testosteronspiegel zu reduzieren, mag zwar bei vielen Tierarten zutreffend sein – beim Menschen jedoch wäre es zu einfach!
Gewalt ist kein integraler Bestandteil beim Erwerb der männlichen Identität!

Lesetipps:

.) Internationales Handbuch der Gewaltforschung; Wilhelm Heitmeyer; Verlag für Sozialwissenschaften 2002
.) Männliche Gewalt – Ihre Wurzeln und ihre Auswirkungen; Vera van Aaken; Patmos Verlag 2000
.) Männlichkeit und Gewalt. Konzepte für die Jungenarbeit; Hrsg.: Ingo Bieringer/Walter Buchacher/Edgar J. Forster; VS Verlag für Sozialwissenschaften 2000
.) Lieber gewalttätig als unmännlich. Der lange Irrweg auf der Suche nach Männlichkeit; Hrsg.: Männer gegen Männergewalt; Pamphlet 1996
.) Desintegrationsdynamiken – Integrationsmechanismen auf dem Prüf-stand; Wilhelm Heitmeyer/Peter Imbusch; Verlag für Sozialwissen-schaften 2012
.) Geil auf Gewalt: Unter Hooligans; Bill Buford; Carl Hanser 1992
.) Mütter machen Männer: Wie Sohne erwachsen werden; Cheryl Benard/ Edit Schlaffer; Heyne 1994
.) Und bist du nicht willig… Ein neuer Umgang mit alltäglicher Gewalt; Jacques Vontobel; Werd Verlag 1995
.) Die unheimliche Faszination der Gewalt. Denkanstösse zum Umgang mit Aggression und Brutalität unter Kindern; Allan Guggenbühl, Schweizer Spiegel Verlag 1993
.) Interaktionen der Geschlechter; Uta Enders-Dragasser/Claudia Fuchs; Beltz Juventa 1989
.) Mediengewalt und Aggression; Ingrid Müller; Universität Potsdam 2006
.) Kleine Helden in Not – Jungen auf der Suche nach Männlichkeit; Dieter Schnack/Rainer Neutzling; Rowohlt Taschenbuch Verlag 2000
.) Nicht Herrscher, aber kräftig: Die Zukunft des Mannes; Walter Hollstein; Hoffmann und Campe Verlag 1988
.) Die Angst des Mannes vor der starken Frau – Einsichten in Männer-seelen; Wilhelm Johnen; Fischer 1994
.) Das Patriarchat. Ursprung und Zukunft unseres Gesellschaftssystems; Ernest Bornemann; FischerTB 1979

Leave a Reply


WP Login