Von Putins Gnaden

„Ich weiß nicht, wie ich leben soll!“
(Michail Fridman, milliardenschwerer russischer Oligarch)

In den letzten Wochen war immer wieder von ihnen zu hören, doch lieben die meisten derer die Verborgenheit – vor allem ausserhalb Russlands: Die Oligarchen! Viele hierzulande kennen zwar den Ausdruck, wissen jedoch nicht viel damit anzufangen – ausser, dass er mit verdammt viel Geld behaftet ist! Auch über die Hintergründe dieser reichsten und mächtigsten Männer Russlands ist meist nur wenig bekannt. Hier möchte ich heute ansetzen und etwas Aufklärungsarbeit leisten.
In der westlichen Hemisphäre werden sie mit den beiden Wörtern „Finanztycoon“ oder „Wirtschaftsmagnat“ umschrieben, die reichen Industriebosse und Finanzspekulanten. Da tauchen stets Namen wie Bezos, Musk, Gates, Bloomberg, Buffet, Fink, etc. auf. Während sich viele beim Flaschensammeln Gedanken darüber machen müssen, wie sie diese Woche überleben sollen, verdienen derartige Grossindustriellen und Geldspezialisten in nur einer Sekunde mehr als viele andere in einem ganzen Monat. Im Reich Putins heisst diese ganz spezielle Spezies „Oligarch“. Sie gehen im Kreml ein und aus – ohne ihre Beteiligung läuft in der russischen Wirtschaft nichts mehr! Eine Mannschaft auf der obersten Sprosse der Leiter, die hochkarätiger nicht sein kann. Die beiden wohl bekanntesten unter ihnen dürften Roman Abramowitsch und Oleg Deripaska sein – doch entstammen sie nur dem Mittelfeld. Dennoch wird in diesen Reihen nach der Invasion Russlands in der Ukraine kein Stein mehr auf dem anderen bleiben. Die russische Wirtschaft liegt am Boden, Staatsanleihen haben nurmehr Ramsch-Wert, der Rubel verliert täglich an Wert, die Vermögen im Ausland sind gesperrt! Ja – dieser von Putin veranlasste Krieg, gerne als „kleiner Konflikt“ bezeichnet und seine krankhafte Sucht auf angebliche Nazijagd wird in diesen Kreisen den einen oder anderen Kopf kosten. Auch wenn die meisten unter ihnen ihr Vermögen mit Gas oder Öl aufbauten, auf das der Westen alsdann weiterhin angewiesen sein wird. Doch wer sind diese Menschen, die den Despoten bei der Jagd begleiten, ihn in seinem Schloss besuchen und bei Sportveranstaltungen direkt neben ihm sitzen dürfen? Allerdings von ihm auch sehr rasch durch Verstaatlichung enterbt, mundtot gemacht und noch bestenfalls des Landes verwiesen werden können. Gegen diese Superreiche wurden die ersten Sanktionen verhängt, sie verlieren jeden Tag zig Millionen ihres Vermögens – es sind die mächtigsten Männer aus Wirtschaft und Finanz an Putin’s Seite und vor allem: Mit dessen Segen! Allerdings zählen nicht alle zum „Silowiki“, dem engsten Machtzirkel des russischen Präsidenten.

Igor Sechin („Darth Vader“)
Sechin scheint zwar nicht in den vorderen Plätzen der Forbes-Liste der reichsten Russen auf, doch soll dies nicht von seiner Macht ablenken. Er gilt seit seiner Zeit als dessen Privatsekretär in den 1990er Jahren als engster Vertrauter des Staatspräsidenten. Seine Sporen verdiente er sich mit der Zerschlagung des Yukos-Erdöl-Konzerns, das der damalige Oligarch Michail Chodorkowski (mehr zu ihm später) leitete. Es glich einer Verstaatlichung der Aktiengesellschaft zugunsten des angeschlagenen staatlichen Konzerns Rosneft. Sechin war damals stellvertretender Leiter der Präsidialadministration. Nach einem kurzen Intermezzo als Präsidentenberater wurde er am 27. Juli 2004 zum Vorstands-vorsitzenden von Rosneft. Im April 2011 forderte Präsident Medwedew Sechin zum Rücktritt auf, bis zum 21. Mai 2012 übte er in Putin’s Kabinett die Funktion des stellvertretenden Ministerpräsidenten der Russischen Föderation aus. Am 22. Mai 2012 berief Putin seinen Gefolgsmann erneut in die Vorstandsebene des verstaatlichten Erdöl-konzerns. Anno 2016 zeichnete er verantwortlich für die Verhaftung von Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew. Damit Sechin jedoch seinem Förderer nicht zu mächtig werden sollte, machte Putin den ehemaligen deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder zum Vorsitzenden des Aufsichtsrates. Sechin steht seit der Annexion der Krim 2014 auf der Sanktionsliste, sein Sohn Ivan folgte nun mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine. Sechins Jahreseinkommen lag einst bei 50 Mio US-Dollar Forbes 2013). Seine 1.229 qm grosse, fünfstöckige Wohnung in Moskau dürfte einen geschätzten Marktwert von 26,3 Mio Euro aufweisen. Anfang März beschlagnahmte der französische Zoll in La Ciotat die Luxus-Yacht Amore Vero, die einem Unternehmen gehöre, in dem Sechin Gross-aktionär ist. Sie war dort zur Reparatur, wurde jedoch eilendst reisefertig gemacht, obgleich die Arbeiten noch gar nicht beendet waren. Kurz danach beschlagnahmten die spanischen Behörden in Tarragona die 135 m lange Mega-Yacht Crescent (Wert: 600 Mio Dollar), die Igor Sechin gehören könnte. Sie segelt unter der Flagge der Kaimaninseln. Auch bei seinem relativ guten Gehalt kann sich der 1960 in Leningrad (heute St. Petersburg) Geborene einen solchen hohen Lebensstandard eigentlich gar nicht leisten! Sechin zählt zum Silowiki – er dürfte nach Einschätzung von Experten direkten Einfluss auf Putin’sche Entscheidungen haben.

Sergei Borissowitsch Iwanow
Auch Iwanow wurde in Leningrad geboren – am 31. Januar 1953. Nach seinem Studium (Englisch und Schwedisch) wurde er durch den KGB angeworben. Dort war er für die Gegenspionage zuständig. In dieser Funktion lernte er Wladimir Putin kennen. Dieser holte Sergei dann auch 1998 als Direktorsstellvertreter zum Inlandsgeheimdienst FSB. Von 2001 bis 2007 leitete er das Verteidigungsministerium, danach bekleidete er die Funktion des 1. Stellvertretenden Ministerpräsidenten. Von 2011 bis 2016 schliesslich stand er der russischen Präsidialverwaltung vor. Iwanow galt lange Zeit als aussichtsreichster Nachfolger seines Förderers. Im Jahr 2016 soll er selbst um seine Amtsenthebung gebeten haben, er wurde Sonderbeauftragter für Naturschutz und Transport. Mit der Annexion der Krim wurde Iwanow von den USA auf die Sanktionsliste gestellt. Als ständiges Mitglied des Sicherheitsrates gehört er zum Silowiki. Mit der Invasion in der Ukraine wurde nun auch sein Sohn, Sergej Iwanow jun., auf die Sanktionsliste gehoben. Der hat eine steile Karriereleiter vorzuweisen: Gazprom, Gazprombank (Vizechef), Landwirtschaftsbank Rosselchosbank (Aufsichtsratsvorsitzender), Versicherungsgesellschaft Sogas (Vorstandsvorsitzender), stv. Vorstandsvorsitzender der Sberbank und 2018 schliesslich Vorstand von Alrosa, einem der weltweit grössten Diamentenproduzenten. Daneben jeweils einen Vorstandssessel bei Rosneft, mehreren Tochterunternehmen der Sberbank sowie beim Rentenfonds Gasfonds.

Alexander Wassiljewitsch Bortnikow
Unter Staatspräsident Medwedew wurde im Jahr 2008 der Armeegeneral Bortnikow Leiter des Inlandsgeheimdienstes FSB. Im Dezember des Jahres 2017 erregte er international die Gemüter, als er in einer Rede auf dem Parteitag die Stalinschen Säuberungen von 1930-1940 rechtfertigte. Der General soll an den Planungen der Ukraine-Invasion beteiligt gewesen sein. Der ukrainische Geheimdienst berichtet ganz offen von etwaigen Putschplänen gegen Putin, wobei auch der Name des Generals als möglicher Nachfolger angeführt wird. Ob dadurch ein gefährlicher Gegner abgesägt werden soll oder die Berichte auf Tatsachen beruhen, sei vorerst dahingestellt. Bortnikow wurde 2014 auf die Sanktionsliste gesetzt. Nach dem Giftanschlag auf den Oppositionellen Nawalny 2020 wurden diese Massnahmen verschärft. Jetzt hat es auch seinen Sohn Denis getroffen. Seine Bankenkarriere wurde durch den Aufstieg seines Vaters richtiggehend pulverisiert. Derzeit ist er stellvertretender Vorstand in der zweigrössten Bank Russlands, der VTB.

Kirill Schamalow
Papa hat’s gerichtet – was denn sonst! Nikolai Schamalow gründete gemeinsam mit Putin die Datschenkooperative „Osero“ bei St. Petersburg. Er zählt zum Silowiki, die Mitglieder von Osero sind in den meisten hohen Polit- und Wirtschafts-Ämtern zu finden. Schamalow verfügt auch über Anteile an Rossija, einer Privatbank, die unter Putin in ungeahnte Höhen aufstieg. So kaufte sie 2004 das Versicherungsunternehmen Sogas, das inzwischen den Pensionsfonds Gazfonds managt. 2005 wurde Sohn Juri Schamalow Präsident des Fonds. Sohn Kirill soll gar 2013 Putins Tochter Jekaterina Tichomirowa geehelicht haben. Kurz zuvor wurde dieser Vizepräsident des Chemieunternehmens Sibur und erhielt sozusagen als Hochzeitsgeschenk eine Apanage in der Höhe von 4,3 % Aktien des Betriebes. Diese musste er nach dem Ende der Beziehung zwar wieder zurückgeben. Allerdings blieb er offenbar seinem Schwiegervater treu. Mittels Kredit der Gazprombank erwarb er weitere 17 % vom Oligarchen Timchenko – die Wirtschaftsnachrichtenagentur Bloomberg vermutet jedoch, dass er dies nur offiziell, stellvertretend abgewickelt hatte. Er ist nach wie vor Vizepräsident des Unternehmens und wird in der Forbes-Liste mit einem Vermögen von 800 Mio Dollar geführt.

Gennadi Nikolajewitsch Timchenko
Forbes führt den 69-jährigen auf Platz 9 in der russischen Milliardärsliste (Platz 78 weltweit). Sein Vermögen wird auf über 12,7 Milliarden Dollar geschätzt. Die USA sanktionierten den russisch-finnischen Oligarchen bereits 2014. Damals musste er seine Anteile am Rohstoffhandels-unternehmen Gunvor mit Sitz auf Zypern verkaufen. Allerdings besitzt er ein grosses Aktienpaket am Gasunternehmen Novatek (20,77 %), das er über seine luxemburgische Holding Volga Group erworben hatte. Die EU und Grossbritannien haben Timchenko mit dem Einmarsch in der Ukraine auf die schwarze Liste gesetzt, sein Vermögen in London eingefroren. Italienische Behörden beschlagnahmten in diesem Frühjahr seine Yacht „Lena“ in San Remo. Der Milliardär traf den Despoten im Jahr 1990. Seither gilt er als Weggefährte und enger Freund Putins. Timchenko handelte bereits Anfang der 90er Jahre mit Öl. Hierfür erhielt er vom damaligen Vizebürgermeister von St. Petersburg, Wladimir Putin, Zugriff auf den Ölterminal der Stadt. Dabei profitierte er stark von der Zerschlagung des Ölkonzerns Yukos. 2007 gründete er gemeinsam mit dem Schweden Torbjörn Törnqvist das Rohstoffhandelsunternehmen Gunvor. Über dieses, aber auch die Volga Group in Luxemburg könnten alsdann Putin-Milliarden in’s Ausland geflossen sein, vermuten mehrere Geheimdienste. Dieser belohnte ihn dafür mit Grossaufträgen für Stroitransgas bei der Fussball-WM und den Olympischen Spielen von Sotschi; mindestens 50 % des Baukonzerns gehören der Familie Timchenko. Der Oligarch hat aus steuerlichen Gründen seinen Wohnsitz 2001 in die Schweiz verlegt. In Genf legte er für seinen Grundbesitz nicht weniger als 8,4 Mio CHF auf den Tisch (2014 wurde das Anwesen auf 18 Mio CHF geschätzt). Dort lebt nach wie vor seine Familie, er selbst ist jedoch wieder nach Moskau zurückgekehrt. Mit Schmunzeln reagiert nun der Schreiberling dieser Zeilen auf den Satz Timchenkos aus dem Jahr 2008, wonach seine „mehr als zwanzigjährige Karriere in der Ölindustrie nicht auf Gefallen oder politischen Verbindungen aufgebaut worden“ sei.

Alexei Borissowitsch Miller
Einen der wohl schwersten Kapazunder Russlands verkörpert Alexei Miller. Der 1962 (ganz zufälligerweise ebenfalls) in Leningrad geborene Manager ist Vorstandsvorsitzender und stv. Aufsichtsratsvorsitzender des wohl grössten Gaslieferanten der Welt und dem grössten russischen Unternehmen: Gazprom! Nach seinem Studium war er angeblich Bürobote des damaligen Vizebürgermeisters Wladimir Putin und als solcher für die Überbringung von Geldkoffer verantwortlich. Danach übernahm er selbst den Schlüssel für das Rathaus in St. Petersburg. Später leitete er den Hafen der Stadt und wurde nach einem Jahr als Generaldirektor des Baltischen Pipelinesysteme russischer Energieminister. Schon 2001 jedoch ereilte ihn der Ruf seines Förderers – er löste bei Gazprom Rem Wiachirew ab und leitete die Umstrukturierung des Staatsbetriebes zu einem multinationalen Konzern ein. Der Börsenwert des Unternehmens stieg von 9,8 Milliarden bei der Übernahme auf 300 Milliarden US-Dollar. Allerdings setzten in den letzten Jahren die Finanz- und Wirtschaftskrise, aber auch die Pandemie dem Konzern arg zu – der Börsenwert 2021 betrug nurmehr 69 Milliarden. 2013 reihte ihn Forbes erstmals in die Liste der mächtigsten Männer dieser Erde ein. Gazprom beherrscht grosse Teile der russischen Wirtschaft, obgleich Rosneft besser notiert ist. Sein Vertrag läuft noch bis 2026. Nach der Krim-Annexion landete er auf der US-Sanktionsliste, mit dem Einmarsch in die Ukraine auch auf jener der EU und Grossbritanniens. Miller und Sechin wetteifern um die Gunst des Staatspräsidenten. Miller verfügt über das Exportmonopol von Gas, weshalb Sechin dieses „Nebenprodukt“ der Erdölförderung nicht verkaufen darf. Das Vermögen Millers wird auf nur 200 Mio Euro geschätzt, als grösster Steuerzahler des Landes jedoch befindet er sich direkt an den Hebeln der Macht. Seine dreistöckige Penthouse-Wohnung in Moskau ist 775, seine Wohnung in St. Petersburg mit Blick auf die Eremitage 400 qm gross.

Michail Maratowitsch Fridman
Die Sanktionen haben den 57-jährigen von allen bisher genannten wohl am ärgsten getroffen. 1964 im ukrainischen Lwiw geboren, gründete er gemeinsam mit Pjotr Awen die Alfa Group, einen der grössten privaten Industrie- und Finanzkonzern des Landes. Dort agiert er nach wie vor als Aufsichtsratsvorsitzender, in mehreren Tochterunternehmen, wie etwa auch der Alfa Bank hatte er den Vorstandssessel inne. Den Banksessel gab er einen Tag nach der Verhängung der Sanktionen auf. Allerdings nennt er zudem dennoch 36 % der Bank-Aktien sein eigen. Als Vor-sitzender des Direktorenrates in der Alfa-Tochter TNK-BP hatte er seine Finger auch am Ölmarkt im Spiel – es ist der drittgrösste Ölkonzern Russlands. Seine Anteile jedoch musste er zuletzt veräussern. Die Alfa Group importierte nach ihrer Gründung 1988 gemeinsam mit dem schweizerischen Unternehmen ADP Trading Tee, Zigaretten, Zucker sowie andere Waren nach und exportierte Öl aus Russland. Das Konsortium ist nach wie vor breit aufgestellt, zu ihm zählt neben vielen anderen das Telekommunikationsunternehmen Altimo bzw. die LetterOne Group in Luxemburg. Sein Privatvermögen wurde zu Beginn des Jahres auf 12,2 Milliarden Dollar geschätzt – damit fand er sich auf Platz 11 der reichsten Russen. Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine soll er rund vier Milliarden verloren haben. Mit dem Rest kann er derzeit nicht viel anfangen. Die EU und auch Grossbritannien haben alle seiner Karten und damit das komplette Hab und Gut eingefroren. Fridman lebte zuletzt vornehmlich in London. Nun muss er von nurmehr 2.900 € im Monat das Auslangen finden und zudem bei jeglichem Geldtransfer die Genehmigung der britischen Regierung einholen. Fridman zählt ebenfalls zu den engeren Freunden Putins, weist aber stets die Vorwürfe nach „engen Beziehungen“ zur russischen Regierung zurück. Zudem habe er mehrfach betont, dass Krieg niemals eine Antwort sei – somit hat er sich als einer der wenigen kritisch zu Putins Kriegsplänen geäussert.

Michail Borissowitsch Chodorkowski
Wie schnell und tief der Fall von einem der reichsten und mächtigsten Männer Russlands (2004 schätzte Forbes das Vermögen des Oligarchen auf 15,2 Milliarden Dollar – Platz 16 der reichsten Männer der Welt) bis ins Straflager bzw. bestenfalls zur Abschiebung ins Ausland gehen kann, zeigt der Werdegang von Michail Chodorkowski auf. Bereits während seines Chemiestudiums engagierte er sich in der Jugendorganisation der KPdSU Komsomol. Nach Studienabschluss absolvierte er noch den Volks-wirtschaftslehrgang. 1987 übernahm er die Leitung des Komsomol-Unternehmens „Zentrum für wissenschaftlich-technisches Schöpfertum der Jugendstiftung für Jugendinitiative (NTTM)“. Dort importierte er u.a. Computer und Jeans und exportierte Matrjoschka-Puppen. 1989 folgte der Vorsitz bei der NTTM-Bank „Innovationsbank für wissenschaftlich-technischen Fortschritt“ – eine der ersten Privatbanken Russlands. Über sie löste Chodorkowski die NTTM vom Obersten Sovjet los und gründete die Menatep-Invest, die in der zusammenbrechenden Sowjetunion rasch an Boden gewinnen konnte und Chodorkowski an Macht. Er war ab 1992 im Beraterstab des russischen Präsidenten Boris Jelzin vertreten und bekleidete mehrere politische Ämter. In Auktionen konnte die Menatep-Invest als Hausbank des Ölförderunternehmens Yukos zuerst rund 45 % und schliesslich die Aktienmehrheit am Konzern übernehmen. Chodorkowski wechselte in den Vorstand des Ölkonzerns. Diesen strukturierte er gemäss seines Leitmotivs „Ehrlichkeit, Offenheit und Verantwortung“ auf westlichen Standard um. Dabei versuchte er jedoch stets, durch die Finanzierung von Parteien wie Jabloko, die Kommunisten und auch der Regierungspartei Einiges Russland einen Fuss in der Innenpolitik zu behalten. Allerdings beschuldigte er die Regierung der Korruption, beabsichtigte mit Exxon Mobil und Chevron Texas zwei Ölmultis aus den USA an Yokus zu beteiligen und meinte lautstark vor den Duma- und Präsidentenwahlen, dass er als reichster Mann Russlands nicht nur Parlamente sondern auch Wahlergebnisse kaufen könne. Vor laufenden TV-Kameras gerieten sich im Februar 2003 Putin und Chodorkowski beim Thema Korruption in die Haare. Am 25. Oktober 2003 wurde er bei einem Zwischenstopp seines Flugzeugs in Nowosibirsk verhaftet und wegen Unterschlagung und Steuerhinterziehung angeklagt. 2005 folgte das Urteil zu neun Jahren Haft, später verkürzt auf acht Jahre. Im Dezember 2010 erfolgte die Verurteilung zu sechs weiteren Jahren wegen Unterschlagung von 218 Mio Tonnen Öl und Geldwäsche. Im Februar 2011 kündigte der damalige Staatspräsident Dmitri Medwedew die Überprüfung der zweiten Verurteilung Chodorkowski, seines Mit-streiters und Kollegen Lebedew und weiterer 30 Beschuldigter an. Der Tatvorwurf des Milliardendiebstahls wurde alsdann nicht mehr erhoben. 2012 verringerte ein Moskauer Bezirksgericht die Haftstrafen Chodorkowskis und Lebedews um zwei Jahre. Im Dezember stellte Chodorkowski ein erneutes Gnadengesuch und wurde überraschend einen Tag später kurz vor Weihnachten begnadigt. Welche Rolle der damalige deutsche Aussenminister Hans-Dietrich Genscher als Vermittler dabei einnahm, ist nach wie vor nicht bekannt. Der ehemalige Oligarch lebt inzwischen in London. Während der Krimkrise rief er beide Seiten zum Einlenken auf. Der neuen prowestlichen Regierung der Ukraine sicherte er nach dem Euromaidan seine Unterstützung zu. 2017 engagierte er sich für die Präsidentschaftskandidatur des russischen Regierungsgegners Alexei Nawalny.

„Es geht nicht darum, Wladimir Putin zu ersetzen, sondern das System, welches zu meinem tiefen Bedauern in meiner Heimat entstanden ist.“
(Michail Borissowitsch Chodorkowski)

Und zum Schluss zum Meister persönlich. Schon vor einigen Jahren berichtete ein Finanzexperte vor dem US-Senat über das unglaubliche Vermögen Wladimir Putins. Damals war von 200 Milliarden Dollar die Rede. Doch weiss der Kremlchef dies gut zu verbergen – es fehlen die Beweise. Fakt ist, dass Putins Yacht „Graceful“ die Blohm & Voss-Werft in Hamburg bereits im Februar in Richtung Kaliningrad völlig überstürzt verliess. Die Bootsbauer kamen nicht mal zu einer Probefahrt. Putins Dadscha, die Residenz am Kap Idokopas am Schwarzen Meer, wurde durch den russischen Architekten Lanfranco Cirillo geplant und von Spezstroi, einem Militärbauunternehmen, ab 2005 errichtet. Das 17.700 Quadratmeter grosse Gebäude steht in einem 68 Hektar grossen Anwesen und soll rund 1,1 Milliarde Euro gekostet haben.

Abschliessend noch einige Worte:
Es ist nicht der Neid, der mich angesichts solcher unvorstellbarer Vermögen zu diesem heutigen Blog bewogen hat. Es ist das System, das bislang nur wenige interessierte, da Russland weit weg scheint. Der Einmarsch russischer Truppen in einen unabhängigen Nachbarstaat jedoch hat aufgezeigt, dass uns diese besorgniserregende und gefährliche Entwicklung sehr wohl betrifft. Der erste wirklich grosse Krieg nach dem Zweiten Weltkrieg! Nicht vor den Toren, sondern vielmehr direkt in Europa! Tausende Menschen – darunter viele Zivilisten – sterben, zigtausende werden verletzt, Millionen sind auf der Flucht! Für den Willen eines einzigen, vom Grössenwahn befallenen Despoten! Und niemand, nicht mal die Mächtigsten seines Landes, stellen sich ihm entgegen! Wie weit geht Loyalität? Bis zum eigenen Untergang? Bis zum möglichen Untergang unserer Welt?

Filmtipp:

– Der Fall Chodorkowski; Regie: Cyril Tuschi

Lesetipps:

.) Wohin steuert Russland unter Putin? Der autoritäre Weg in die Demokratie; Hrsg.: Gabriele Gorzka, Peter W. Schulze; Campus 2004
.) Das System Putin. Gelenkte Demokratie und politische Justiz in Rußland; Margareta Mommsen/Angelika Nußberger; C.H. Beck 2007
.) Putins Netz – Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste; Catherine Belton; Harper Collins 2022
.) Russische Energiepolitik. Ent- oder Neuverflechtung von Staat und Wirtschaft?; Kirsten Westphal; Nomos 2000
.) The Political Economy of Russian Oil; Hrsg.: David Lane; Rowman & Littlefield, Lanham u. a. 1999
.) Michail Chodorkowski. Vom Jukos-Chefsessel ins sibirische Arbeitslager. Aufstieg und Fall des russischen Ölmilliardärs; Waleri W. Panjuschkin; Heyne 2006
.) Rich Russians: From Oligarchs to Bourgeoisie; Elisabeth Schimpfoessl; Oxford University Press 2018

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