Arabischer Frühling – was übrig blieb!

„Freiheit ist es wert zu sterben!“
(George W. Bush, 2003)

Tunesien am 17. Dezember 2010: In Sidi Bouzid (250 km südlich der Hauptstadt Tunis) steht ein Mann auf dem Marktplatz. Er übergiesst sich mit Benzin und zündet sich selbst an. Tarek al-Tayeb Mohamed Bouazizi erliegt am 04. Januar 2011 seinen schweren Verbrennungen und Verletzungen. Der Gemüsehändler betrieb einen mobilen Gemüsestand. Damit ernährte er seine Mutter und die fünf Geschwister. Doch die Behörden machten es ihm nicht leicht: Wegen fehlender Genehmigungen wurde sein Stand mehrfach geschlossen, die Waren und auch die Waage beschlagnahmt. Als er auf der Polizeiwache dagegen Beschwerde einlegen wollte, wurde er schwer misshandelt.

„Seine Tat war der Funke, der den Flächenbrand entzündet und letztlich die ganze arabische Welt verändert hat!“
(Ibrahim al-Koni 2011 im „Tagesspiegel“)

Was damals noch niemand ahnen konnte: Bouazizis Selbsttötung hat den Arabischen Frühling ausgelöst. Revolutionen, die wie ein Lauffeuer ganz Nordafrika und den Nahen Osten erfassten. Leider grossteils mit sehr blutigem Wegzoll! Doch – was blieb übrig? Was hat sich dort seither getan? War der sehnliche Wunsch nach Freiheit und Demokratie die zigtausenden Opfer wert? Eine Bilanz!

.) Tunesien
Bouazizi wurde im Krankenhaus noch vom tunesischen Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali besucht. Danach musste dieser nach 23 Jahren Regierungsverantwortung am 14. Januar Tunesien fluchtartig verlassen. Bereits am 17. Dezember gab es die ersten Proteste, die immer mehr wurden – leider auch verbunden mit Plünderungen und Gewaltexzessen. Aus den Unruhen wurde ein Volksaufstand, aus dem Volksaufstand eine Revolution. Über das Land wurde der Ausnahmezustand verhängt. Als sich das Militär auf die Seite der Demonstranten stellte, wurde eine Übergangsregierung („Regierung der nationalen Einheit“) erstellt und ein Übergangspräsident in’s Amt bestellt. Die Proteste jedoch rissen nicht ab, sie richteten sich vornehmlich gegen Mitglieder der Regierung, die bereits der Ben-Ali-Regierungspartei angehörten. Viele von ihnen schieden schliesslich am 27. Januar 2011 aus der Regierung aus. 2014 wurde die Autokratie Ben Alis durch eine demokratische Verfassung mit anschliessenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ersetzt. Seither ist es ruhiger geworden in Tunesien. Tatsächlicher Grund für die Unruhen waren allerdings die stark gestiegenen Lebensmittelpreise und Energie-kosten, die hohe Arbeitslosigkeit, die miserablen Zukunftsperspektiven der Jugend und die Korruption der bisherigen Regierung. Ben Ali übrigens kam 1987 durch einen Putsch an die Macht. Gegen ihn erliess die tunesische Justiz am 27. Januar 2011 einen internationalen Haftbefehl, wie auch gegen seine Frau Leila und einige seiner engsten Mitarbeiter. Ben Ali verstarb am 19. September 2019 in Dschidda/Saudi Arabien.

.) Algerien
Dieses Land ist schnell abgearbeitet, da hier seit 1999 Präsident Abd al-Asis Bouteflika mit eiserner Faust regierte. Zuvor stand Algerien 19 Jahre lang im Ausnahmezustand, der dem Präsidenten zusätzliche Macht-befugnisse bescherte. Am 05. Januar 2011 begannen die Unruhen. Grund dafür waren ebenso die stark gestiegenen Preise für Grundnahrungsmittel und die schlechten Zukunftsperspektiven der grossteils gut ausgebildeten Einwohner. Der Ausnahmezustand wurde aufgrund des Drucks aus der Bevölkerung am 22. Februar aufgehoben. Hinter den Aufmärschen stand allerdings keine einheitliche Organisation, was sie zu Einzelereignissen machte. Die Polizei knüppelte sie mit Schlagstöcken nieder. Im April wurden erneut Unruhen im Keim erstickt. So zudem am 05. Oktober 2011, dem Jahrestag der Demokratiebewegung 1988. Deren Initiatoren wurden verhaftet. 2013 flachten die Demonstrationen ab – Präsident Bouteflika erlitt kurz danach einen Schlaganfall, kandidierte allerdings nach einer Verfassungsänderung (anno 2016) bei der Wahl 2019 erneut. Dies führte zu weiteren, landesweiten Protesten. Daraufhin zog Bouteflika seine Kandidatur zurück. Zwei Jahre später, am 17. September 2021, verstarb „Boutef“ Bouteflika. Nach den Präsidentschaftswahlen trat am 19. Dezember 2019 Abdelmadjid Tebboune das Amt des Premierministers an. Das Militär stellte sich hinter ihn, der Verfassungsgerichtshof bestätigte seine Wahl (1. Wahldurchgang 58,15 %). Er liess das Volk über eine neue Verfassung abstimmen, das diese auch bestätigte. Danach stellte er die Geheimdienste unter die Kontrolle der Regierung. Dieser Schritt begrenzte die Macht des Militärs. Seither wurde es auch in Algerien wieder ruhig.

.) Ägypten
Am 25. Januar 2011 („Tag des Zorns“) begann in Ägypten der Arabische Frühling in Form einer Grosskundgebung gegen das korrupte Regime von Präsident Husni Mubarak. Es gärte allerdings schon vorher, da auch in Ägypten seit 30 Jahren Notstandsgesetze in Kraft waren, die dem Präsidenten entscheidende Machtbefugnisse zugestanden. Demonstra-tionen der elitären Oppositionsbewegung wurden stets mit Polizeigewalt niedergeschlagen, Reformen nur unmerklich durchgeführt, sozusagen um den Schein zu wahren. Auch hier waren es wohl die desolate Wirt-schaftslage und die Perspektiven, die die Menschen auf die Strassen trieben. Ägypten galt bislang als guter Partner des Westens, weshalb hier die Entwicklung mit grösster Sorge beobachtet wurde. In der Regierungspartei selbst herrschte Uneinigkeit über den zukünftigen Weg des Landes. Die Unruhen kamen somit zu einem mehr als ungünstigen Moment. Organisiert wurden sie vornehmlich durch die Mittelschicht-jugend via sozialer Netzwerke. Mubarak hatte die Jahre zuvor versucht, seinen Sohn Gamal als Nachfolger aufzubauen. Der jedoch versuchte ein Netzwerk mit den Wirtschaftstreibenden und Grossunternehmern aufzu-bauen. Ihm fehlte der Rückhalt im Militär, weshalb sich nach und nach Teile der Armee auf die Seite der Demonstranten stellten, da die Offiziere ihre lukrativen Nebengeschäfte dahinschwinden sahen. Am 11. Februar 2011 schliesslich übernahm das Militär unter dem bisherigen Verteidigungsminister Generalfeldmarschall Muhamed Hussein Tantawi offiziell die Macht, dem sich auch die bis zuletzt für Mubarak gewaltsam kämpfenden Polizei- und Sicherheitskräfte unterordneten. Husni Mubarak wurde abgesetzt, später zu lebenslanger Haft verurteilt, seine National-demokratische Partei NDP aufgelöst. Viele wurden unter Anklage gestellt. Die anschliessenden Parlamentswahlen gewann die „Partei für Freiheit und Gerechtigkeit“ (Muslimbrüderschaft). Diese war jedoch intern selbst uneins: Der konservative Flügel forderte den Umbau der Gesellschaft nach islamischen Vorstellungen, während der progressiv-reformistische Flügel einen Zivilstaat mit religiösem Rahmen forderte. Mohamed Mursi übernahm die Präsidentschaft. Dies trieb wiederum die liberalen, linken und säkulären Kräfte auf die Barrikaden. Am 29. November 2012 beschloss die Verfassungsgebende Versammlung einen Entwurf für eine neue, auf der Scharia aufbauenden Verfassung. Erneut waren Unruhen die Folge. Hierauf putschte das Militär. Bei den Neuwahlen 2014 siegte mit Generaloberst Abd al-Fattah as-Sisi erneut ein Autokrat. Er wurde im April 2018 mit 97 % der Stimmen wiedergewählt. Allerdings übten viele unabhängige Wahlbeobachter Kritik an diesen Wahlen.

.) Jordanien
Schon am 07. Januar 2011 gab es in Jordanien erste Demonstrationen. Sie richteten sich nicht gegen das Königshaus, sondern gegen die Regierung. Auch hier waren es vor allem Preissteigerungen bzw. die Streichung von Subventionen auf Benzin, Diesel und Erdgas. Am 26. Januar 2011 schliesslich kam es zu einem durch die Islamische Aktionsfront ausge-rufenen Protest. König Abdullah II. bin al-Hussein forderte daraufhin Reformen ein. Ministerpräsident Samir ar-Rifai wurde abgesetzt. Der König änderte die Verfassung insofern, dass der Regierungschef und dessen Kabinett durch das Parlament gewählt wird, er jedoch ein Veto-Recht ausüben kann. Am 23. Januar 2013 wurden Parlamentswahlen abgehalten, aus welchen die Loyalisten als Sieger hervorgingen. Dies führte erneut zu Protesten vor allem aus dem Kreise der Muslimbrüder und ihren Anhängern, die die Wahlen boykottierten.

.) Kuwait
Die ersten Proteste begannen am 18. Februar 2011 in al-Dschahra. Hierbei ging es jedoch nicht um Preissteigerungen sondern um die Ver-leihung der Staatsbürgerschaft. Insgesamt sollen dabei 30 Demons-tranten verletzt worden sein. Es folgten Proteste der Opposition gegen die Korruption von Regierungsmitgliedern. Die Regierung von Nasir al-Muhammad al-Ahmad as-Sabah trat am 28. November zurück. Zuvor hatten Hunderte Demonstranten das Parlamentsgebäude gestürmt. Kuwait ist eine konstitutionelle Erbmonarchie. Der Emir ist sowohl welt-liches, als auch geistliches Oberhaupt.

.) Marokko
In Marokko versammelten sich am 20. Februar 2011 („Tag der Würde“) tausende Demonstranten nach einem Aufruf auf Facebook. Es kam zu Unruhen, die in der Stadt Al-Hoceima fünf Todesopfer forderten (Brand einer Bankfiliale). Die Demonstrationen hatten auch hier eine neue Verfassung zum Ziel – Marokko ist eine konstitutionelle Monarchie. König Muhammad VI. schwenkte ein, musste dadurch einen Teil seiner Befugnisse abtreten. So wird seither der Regierungschef aus der Partei mit den meisten Parlamentssitzen gewählt und die Judikative deutlich von der Exekutive getrennt. Die neue Verfassung wurde am 01. Juli 2011 mittels eines Referendums mit 98 % bestätigt.

Mohamed Bouazizi erhielt postum 2011 den Sacharow-Preis für geistige Freiheit des Europäischen Parlaments, in Paris wurde ein Platz nach ihm benannt. Die tunesische Post widmete ihm eine Briefmarke! Es hat sich noch weitaus mehr in der arabischen Welt damals bis heute getan. Davon berichte ich in der kommenden Woche.

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