Die fünfte Jahreszeit

Der leider bereits verstorbene Kabarettist Dieter Hildebrandt meinte 2003 in der Sendung „Unter4Augen“:

„Mensch bedenke: Die Bakterien werden uns von der anderen Seite des Mikroskops aus beobachten!“

Ehrlich? Vor allem in der „Fünften Jahreszeit“ würde es mich durchaus interessieren, was so manch getreuer Vierbeiner angesichts der vielen Jecken und Narren von der Krone der Schöpfung und deren mehr als dubiosen Verhalten in diesen Wochen meint. Sei’s drum – leider sind auch heuer die meisten Grossveranstaltungen abgesagt, da sich nach wie vor einige unmaskierte Narren weigern, an Massnahmen zur Verbesserung jener Lage zu halten, gegen die sie höchstpersönlich auf die Strasse gehen. Aber – das ist wieder eine ganz andere Geschichte!
Lassen Sie uns heute doch mal einen Blick auf die Hintergründe dieses närrischen Treibens werfen, denn viele zwängen sich zwar alljährlich in ein Kostüm, wissen jedoch nicht warum! Fehlt hier der Zusammenhang – wird daraus tatsächlich ein sinnloses Tun! Dabei ist die Geschichte durch-aus interessant.
Der grundsätzliche Gedanke sowohl der Fasnächte als auch des Karnevals lag in dem Aufbrauchen verderblicher Lebensmittel vor dem Beginn der Fastenzeit – also in der christlichen Zeit, nicht wie oftmals angenommen in der vorchristlichen. Zu diesem Fress- und Trinkgelage wurden Freunde und Verwandte eingeladen. Aufzeichnungen lassen darauf schliessen, dass dies bereits im 12./13. Jahrhundert praktiziert wurde.
Je nach Region wird auch heute noch unterschiedlich gefeiert:

1. Die Schwäbisch-alemannische Fastnacht
Eigentlich ist sie noch gar nicht so alt – dennoch der höchste Würden-träger unter allen Varianten: Die schwäbisch-alemannische Fastnacht zählt seit dem Jahr 2014 zum deutschen Verzeichnis des immateriellen Weltkulturerbes nach den Richtlinien der UNESCO. Gefeiert wird sie in Südwestdeutschland sowie der Nordost- bzw. Zentralschweiz. Dement-sprechend unterschiedlich sind auch die Schwerpunkte oder die Bezeichnungen. So schwanken diese zwischen Fasnacht, Fasnet, Fasnad oder auch Fasent. Historisch leitet sich Fasnet von der frühneuzeit- bzw. mittelalterlichen Fasnacht ab, deren Tradition im 20. Jahrhundert wieder ausgegraben wurde. In der Schwäbisch-alemannischen Fastnacht treffen sich die „Narrenhäs-Träger“, also Menschen, die sich mit Larven oder „Schemen“ zumeist aus Holz verkleidet haben. Das Narrenhäs wird vom Träger über Jahre hinweg verwendet, manches Mal gar vererbt. Beginn des ganzen Zinnobers ist der Dreikönigstag, an welchem die Larven „abgestaubt“ werden. Den Höhepunkt stellt der „Schmotzige Dunnschtig“ dar, andernorts auch als „Gumpiger Donnerstag“ bekannt. Dann trifft man auf den Strassen oder bei so manchem Narrentreffen auf jede Menge „Schneller“ (Bodenseekreis), „Klepfer“ (Rottweil) oder „Häser“ (Villingen). Am oberen Neckar sind es die „Abstauber“ und in Rottenburg am Neckar die Hexen. Nahezu jedes Wochenende steigt in pandemiefreien Jahren eine Narrenversammlung. Der zweite wichtige Termin der schwäbisch-alemannischen Fasnet ist der 02. Februar – Maria Lichtmess. Die Anzahl der Veranstaltungen nimmt rasant zu. Da feiert man in Oberschwaben das „Maschgern“, im Schwarzwald das „Schnurren“, in Villingen das „Strählen“, in Oberndorf das „Hecheln“ und in Schömberg das „Welschen“. Andernorts heisst es auch ganz einfach „Aufsagen“! Inhalt dieses Auf-sagens sind die Ereignisse des letzten Jahres, die lustig aufbereitet als Vierzeiler oder Lieder von den maskierten Narren dem Volk dargeboten werden. Diese ziehen von Gasthaus zu Gasthaus, wo sie meist schon sehnsüchtigst erwartet werden. In früheren Zeiten wurde dies an unterschiedlichen Stationen auf der Strasse gezeigt.
Auch für den Schmotzigen Dunnschtig gibt es Namen, die nach Regionen variieren können: Gausaliger Donschdig, Schmitziga Dorschdich, Dicker Donnerstag, Glombiger Doschdig, … „Schmotzig“ bedeutet im Alemannischen „fettig“. Alsdann wurden an diesem Tag zumeist fette Speisen gereicht: Fasnetsküechle, Krapfen oder auch „Nonnenfürzle“. In Konstanz etwa wird die Bevölkerung bereits um 06.00 Uhr durch Trommler und Fanfarenzüge geweckt. Nachdem die Stadt- oder Gemeinderegierung beim Rathaussturm abgesetzt wurde, übernehmen die Narren das Kommando. Gefeiert wird mit unzähligen Umzügen und Strassenfasnachten. In Rottweil und Oberndorf sind dies auch heute noch die bekannten „Narrensprünge“. 1924 gründeten die Narrenzünfte die „Vereinigung schwäbisch-alemannischer Narrenzünfte“ (VSAN). 1937 folgte der Verband oberrheinischer Narrenzünfte und schliesslich 1959 die Narrenvereinigung Hegau-Bodensee. Die Aufgabe dieser Dach-verbände liegt vornehmlich in der Bewahrung des Brauchtums. Die Gestalt der Hexe kam erst 1933 mit der Gründung der Hexenzunft in Offenburg in’s Spiel – nicht unbedingt zum Wohlwollen der Brauchtum-schützer, die die Fasnacht dadurch gefährdet sehen. Sie beruht einerseits auf Märchen, andererseits auf den Überlieferungen über die mittelalter-lichen Hexen. Auch in Tirol gehört die Hexe als ein wichtiger Bestandteil zum Fasching. Dort jedoch bereits seit dem 18. Jahrhundert. Ähnlich ergeht es dem Treibermotiv, bei dem Narrenhäs-Träger eine Figur vor sich hertreiben. In Weingarten ist dies das „Fasnetsbuzzerössle“, in Rottweil das „Brieler Rössle“ und in Bad Waldsee „Werners Esel“. Dieses Motiv kam auch erst später hinzu. Der Teufel jedoch fand seinen Platz bereits vor dem 17. Jahrhundert. In Rottweil als „Federahannes“, im mittleren Schwarzwald als „Elzacher Schuttig“. Die „Alte Vettel“ ist ebenfalls typisch alemannisch: Schon im Mittelalter verkleideten sich Männer mit Frauenklamotten um als solche unerkannt ihr Unwesen zu treiben (“Verkehrte Welt“). Daneben spielten stets auch Sagen- und Tiergestalten, Narrenrufe, Sprüche etc. eine wichtige Rolle, auf die ich aus Platzgründen nicht näher eingehen möchte.

2. Die Buurefasnacht (Alte Fasnacht)
Hier mischte einst die römisch-katholische Kirche gewichtig mit. Im Konzil von Benevent wurde der Beginn der Fastenzeit um sechs Tage vorverlegt. Daran aber hielten sich vornehmlich evangelische Regionen bzw. einige ländliche Gebiete nicht – sie feierten bis zum Dienstag der 6. Woche vor Ostern. Dies ist auch heute noch als „Buurefasnacht“ bekannt. Die römisch-katholische Kirche hingegen sprach vom „civitas diaboli“ – dem Teufelstaat. Das Volk reagierte mit dämonischen, teuflischen Masken. Auch die Basler orientieren sich bis heute an der alte Fastenzeit, wonach die Sonntage nicht zur Fastenzeit gerechnet werden. Die katholischen Regionen hielten sich an die höchstkirchliche Anordnung – deshalb spricht man hierbei von der „Herren- oder Pfaffenfasnacht“.

3. Die Groppenfasnacht
In Ermatingen am schweizerischen Südufer des Untersees am Bodensee endet die Fasnacht erst drei Wochen vor Ostern, am „Sonntag Laetare“. Heuer übrigens wird sie zum 607. Mal begangen! Sie ist eine der traditionsreichsten Fasnächte der Ostschweiz.

Ganz allgemein war in der Fasnacht die Verkleidung meist simpel und einfach gewählt. Erst im 17. Jahrhundert wurde während des Barocks der Fantasie freien Lauf gelassen. Dies vor allem bei den Masken, die teilweise wahre Kunstwerke sind. Zudem wurde auch der Einfluss der italienischen Commedia dell’Arte immer wichtiger.

4. Der Karneval
Vielen wurde in der Zeit der Aufklärung die Fastnacht zu altbacken, manchen gar zu primitiv. Während der Romantik entwickelte deshalb das Bildungsbürgertum den Karneval. Das Wort „Karneval“ selbst leitet sich ab vom italienischen „carnevale“, das wiederum seinen Ursprung im kirchen-lateinischen „carnislevamen“ (Fleischwegnahme) hat. Die Enthaltsamkeit bezog sich übrigens im Mittelalter auch auf den Wein (nicht das Bier) und die Sexualität, weshalb diese ausschweifenden Tage wenig Anhänger in der Kirche fand. In der Karnevals-Hochburg Köln wurde er erstmals 1823 abgehalten. Der Haupttag des Karnevals ist stets der Rosenmontag, an dem kilometerlange Karnevalszüge durch die Städte ziehen. Daneben wird der Karneval selbstverständlich auch durch Sitzungen, v.a. aber in den Lokalen und Gasthäusern gefeiert. Der Karneval ist seit dem 19. Jahrhundert sehr politisch geworden. So wurden Kölner Karnevals-präsidenten wie Heinrich von Wittgenstein, Franz Raveaux oder auch der Bonner Universitätsprofessor und Büttenredner Gottfried Kinkel später Politiker. Büttenredner Karl Küpper beispielsweise erhob in der Saison 1937/38 auf dem Weg zur Bütt den rechten Arm zum „deutschen Gruss“ und sagte nicht „Heil Hitler“ sondern. „Nä, nä, su huh litt bei uns dr Dreck em Keller!“ (Nein, nein, so hoch liegt bei uns der Dreck im Keller!). Küpper erhielt lebenslanges Redeverbot, das 1944 wieder aufgehoben wurde. 1951 übrigens deutete er diesen Gruss erneut in der Bütt an und meinte: „Et es widder am rähne!“ Er meinte damit den Einfluss der NS-Elite in der neu gegründeten Bundesrepublik. Interessant ist übrigens die Tatsache, dass die Nationalsozialisten bis 1940 den Karneval nicht verboten hatten. Sie haben ihn instrumentalisiert. 1937 wurde der „Bund Deutscher Karneval“ gegründet. Karnevalsvereine, die diesem Dach-verband nicht angehörten, konnten fortan nurmehr geheim feiern. Männer durften nicht mehr in Frauenkleidern auftreten, antisemitische Parolen wurden in alle Reden eingebaut. 1938 erwähnte ein Büttenredner in der Mainzer Carnevalssitzung das Konzentrationslager Dachau, worauf die Live-Übertragung sofort abgebrochen wurde.

5. Der Fasching
In Österreich und Bayern wird Fasching gefeiert. Dieser setzt sich aus allen bislang aufgeführten Spielarten zusammen. Eingeläutet am 11.11. um 11.11 Uhr (die 11 ist seit jeher die „Narrenzahl“) werden zumeist ab dem 07. Januar Faschingssitzungen und Bälle abgehalten, während der Weihnachtszeit schläft der Fasching. Die grossen Strassenumzüge finden entweder am Faschingssonntag oder vor allem am Faschingsdienstag statt. Gereicht werden übrigens hierzu Faschings- oder Punschkrapfen. Auch im Fasching gibt es unzählige alte Brauchtümer, wie etwa das Fisser Blochziehen, bei dem ein 35 m langer Zirbenstamm gezogen werden muss oder der Ebenseer Fetzenzug, bei dem auf alten Frauenkleidern Lumpen genäht werden, die zu selbstgeschnitzten Holzmasken beim Umzug getragen werden. Beides gehört seit 2011 ebenfalls zum immateriellen Weltkulturerbe Österreichs nach UNESCO-Richtlinien. Ebenso wie der Ausseer Fasching mit seinem Flinserl, den Trommel-weibern und den Pless oder das Murauer Faschingsrennen, bei dem die bunten Figuren von Hof zu Hof marschieren. Viele dieser Faschings-Brauchtümer wurzeln jedoch in heidnischen Zeiten: Dadurch sollte Göttern gehuldigt und die bösen Geister vertrieben werden. Dies wird v.a. beim Allgäuer und Vorarlberger Brauch des Funkenabbrennens („Fast-nachtsfeuer“) am Sonntag nach Aschermittwoch bewusst. Auf einem riesigen Scheiterhaufen wird eine Hexe verbrannt. Explodiert sie laut, bedeutet dies Erfolg und Glück für das kommende Jahr. Fällt der Funken davor um, folgt ein Jahr voller Unheil. Der Vorarlberger Funken zählt seit 2010 zum immateriellen Weltkulturerbe nach UNESCO-Richtlinien. Fasching in Österreich ist also wesentlich mehr als Wiener Opernball oder Villacher Fasching.

Die Fastnacht, der Fasching und der Karneval haben sich inzwischen zu ganz entscheidenden Wirtschaftsfaktoren entwickelt. Alleine in Deutsch-land geben Frau Schmidt und Herr Müller jährlich rund 300 Millionen Euro nur für Kostüme und Verkleidungen aus, der Gesamtumsatz am Kölner Karneval wird alljährlich auf rund 460 Mio € geschätzt.
Auch in vielen anderen Ländern wie Frankreich, Italien, Polen, Kroatien, Brasilien und sogar Syrien wird diese Fünfte Jahreszeit gefeiert – ein mögliches Thema eines anderen Blogs.
Für die nächsten Wochen wünsche ich allen Narren und Jecken eine ausgelassene und närrische Zeit, wenn auch unter anderen Voraus-setzungen. Um Dieter Nuhr aus seinem Jahresrückblick zu zitieren:

„Im nächsten Jahr auch wieder mit den Ungeimpften, die dann ja wohl genesen oder nicht mehr unter uns sein werden!“

Lesetipps:

.) Das große Buch der schwäbisch-alemannischen Fastnacht. Ursprünge, Entwicklungen und Erscheinungsformen organisierter Narretei in Südwestdeutschland; Werner Mezger; Theiss 1999
.) Zur Geschichte der organisierten Fastnacht. Vereinigung Schwäbisch-Alemannischer Narrenzünfte; Wilfried Dold/Roland Wehrle u. a., DoldVerlag 1999
.) Schwäbisch-alemannische Fasnacht; Wilhelm Kutter; Sigloch 1976
.) Fastnacht/Karneval im europäischen Vergleich. (Mainzer Vorträge 3); Hrsg.: Michael Matheus; Franz Steiner Verlag 1999
.) Elf Uhr elf; Hrsg.: Theodor Barth, Ute Behrend, Thekla Ehling, Dirk Gebhardt, Matthias Jung, David Klammer, Frederic Lezmi, Nadine Preiß, Wolfgang Zurborn; Kettler 2014
.) Fastnacht, Fasching, Karneval. Das Fest der „verkehrten Welt“; Dietz-Rüdiger Moser; Edition Kaleidoskop 1986
.) Was auch passiert: D’r Zoch kütt! Die Geschichte des rheinischen Karnevals; Hildegard Brog; Campus 2000
.) Kölner Karneval. Zur Kulturgeschichte der Fastnacht; Peter Fuchs/Max-Leo Schwering; Greven Verlag 1972
.) Unangepasst und widerborstig. Der Kölner Karnevalist Karl Küpper, Fritz Bilz; Edition Kalk 2020
.) Die großen Fasnachten Tirols; Hans Gapp; Edition Löwenzahn 1996
.) Fasnächtliches Uri; Rolf Gisler-Jauch; Gisler 2005

Links:

– www.kulturrat.de
– www.alemannische-seiten.de
– www.vsan.de
– www.groppenfasnacht.ch
– www.unesco.de/kultur-und-natur/immaterielles-kulturerbe/immaterielles-kulturerbe-deutschland/fastnacht
– www.schwarzwald.com
– koelnerkarneval.de

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