Wenn die wahre Realität verloren geht
„Jeder meint, dass seine Wirklichkeit die richtige Wirklichkeit ist.“
(Hilde Domin, dt. Schriftstellerin)
Die aktuelle Corona-Krise hat es wohl in aller Härte wie bislang noch nie aufgezeigt: Das Internet kann verrückt machen! Die Hamsterkäufe von Toilettenpapier, Mehl, Hefe etc. waren allesamt das Produkt von Panik-mache über die Social Medias mit dem Effekt, dass die Produkte nun teurer werden. . Durch die Ausgangsbeschränkungen waren noch weitaus mehr Menschen noch weitaus länger im World Wide Web als in normalen Zeiten. Da schaukelt man sich gegenseitig emotional hoch – ein wahr-haftiges Paradies für Fake News-Maker. Ein nicht zu unterschätzendes Risiko, schliesslich droht hier der Realitätsverlust!
Wer sich trotz all dieser Negativmeldungen zum Einkauf in den Super-markt traut, wird feststellen können, dass von allem noch (oder wieder) genug da ist. Er wird jedoch auch feststellen können, wenn er zum Beispiel im Discounter einkaufen sollte, dass gewisse Gesellschafts-schichten anfälliger sind als andere. Wissenschaftler warnen schon seit Jahren vor dem exzessiven Gebrauch von beispielsweise PCGames, aber auch dem Internet. In beiden Fällen droht der Verlust des Realitätssinns – die Sucht wird deshalb seit Juni 2018 durch die WHO als „substanzun-gebundene Sucht“, also als psychische Krankheit im Rahmen der ICD-11-Erkrankungen eingestuft – tritt mit dem 1. Januar 2022 in Kraft. Besonders problematisch in dieser Hinsicht ist die sog. „Gaming Disorder“, also die Computerspielesucht. Auf diese möchte ich heute aber nicht im Speziellen eingehen, sondern das Problem allgemeiner halten. Wenn Sie die nun folgende Frage mit „Ja!“ beantworten können, sollten Sie auf jeden Fall diesen Blog bis zum Ende durchlesen:
„Sind Sie öfter als 30 Stunden die Woche im Internet?“
Facebook, Twitter, Instagram oder vor allem WhatsApp – in den Social Medias ist jegliches Zeitgefühl zumeist sehr schnell verloren! Dennoch lässt es sich nicht genau bestimmen, ab wann der Zeitvertreib zur Sucht wird. Deshalb gehen die meisten Experten inzwischen von einem anderen Erscheinungsmuster aus: Tritt ein Kontrollverlust mit erheblichen Aus-wirkungen auf das soziale Leben und die Arbeitsfähigkeit ein, so ist die Schwelle zur Sucht überschritten! Das kann beim Mann in den Midlife-Crises sein, der stets neue Sexfotos oder -filme sucht, bei den Kaffee-tanten, die sich via SoMes jede Neuigkeit sofort zusenden müssen oder auch beim Teen, der nahe am Kollaps steht, wenn das Handy verlegt wurde und somit nicht gechattet werden kann. Es ist dieser nicht zu unterbindende innerliche Drang, stets einen Computer (in welcher Grösse oder Erscheinungsform auch immer) in greifbarer Nähe haben und ihn bedienen zu müssen. Betroffene Menschen reagieren oftmals stark gereizt und nervös. Das stärkste Zeichen einer Sucht jedoch ist es, wenn jemandem diese Sucht bewusst ist, man ihr aber hilflos gegenüber steht, dies also nicht in den Griff bekommen kann. Ob Drogen, Alkohol, Nikotin oder Computer – diese Abhängigkeit bleibt immer gleich.
Doch – was steckt wirklich dahinter? Ähnlich wie bei den Drogen oder dem Alkohol ist es vornehmlich die Flucht vor der Realität. In eine Welt, die vermeintlich besser ist, in welcher man Gleichgesinnte findet oder wo man sich als jener ausgeben kann, der man immer schon sein wollte. In die Risikogruppe fallen vornehmlich Menschen mit Problemen im privaten Bereich, der Arbeit oder Schule und jene, die unter einem mehr oder weniger starken Minderwertigkeitskomplex leiden. Auch Personen ohne soziale Kompetenz, mit nur eingeschränktem Freundeskreis sind gefährdet! Millionen User alleine im deutschsprachigen Raum sind hiervon betroffen. Alleine in Deutschland sind über 100.000 Menschen bereits als virtuell-süchtig gemeldet.
Sie flüchten in eine Scheinwelt, aus der viele nurmehr schwer heraus-finden. Vor allem nicht ohne Unterstützung. Übrigens steht dieser Realitätsverlust auch am Beginn der Schizophrenie und der organischen Psychose.
Wie bei jeder exzessiven Sucht hinterlässt auch die Computersucht tiefe Spuren in der Psyche eines Menschen. So mancher Experte weiss zu berichten, dass die Online-Sucht schwieriger und gar gefährlicher als die Alkohol- und Nikotinsucht ist. Wenn ein klärendes Gespräch keine oder nur wenig Wirkung zeigt, sollten Experten zu Rate gezogen werden. Auch Suchthilfeorganisationen können hierbei weiterhelfen. So betont die Spielsuchtberatung der Stadt Klagenfurt (auch zuständig für Internet-sucht), dass es teilweise bis zu zehn Jahre dauere, bis sich ein Spiele-Süchtiger die Sucht eingesteht. Inzwischen haben sich Schulden ange-häuft, ist das Aggressionspotenzial gestiegen und die reale Welt durch die Spielewelt ersetzt worden, betont die Psychologin Petra Hinteregger von der Suchtberatung. Keinesfalls sollten die Symptome auf die leichte Schulter genommen werden. Vor allem Kindern und Jugendlichen droht oftmals gar der Realitätsverlust, betont der Neurobiologe und Autor Gerald Hüther! So fehle dem wachsenden Kind oder Jugendlichen mit jeder Stunde vor dem Computer auch eine Stunde, sich im wirklichen Leben weiterzuentwickeln, so Hüther. Irgendwann überwiegt die Schein-welt gegenüber der Realwelt – die Grenze ist überschritten. Nach den Untersuchungen der JIM-Studie 2019 (Jugend, Information, Medien) besitzen 95 % der deutschen Jugendlichen zwischen 12-19 Jahren ein Handy bzw. Smartphone. 96 % der Mädchen und 95 % der Jungen sind zumindest täglich im Internet – 91 % der Mädchen und 90 % der Jungen nutzen dafür das Smartphone. Insgesamt erklärten die befragten Jugendlichen, täglich bis zu 205 Minuten im Internet zu sein (2018 waren es noch 214 Minuten). Hinzu kommen aber noch die anderen Bildschirm-zeiten vor dem Fernseher oder dem PC! Alles in allem beläuft sich die Bildschirmzeit auf dieselbe Dauer wie die tägliche Schulzeit!
Diese Menschen finden sich zumeist in der wirklichen Gesellschaft nicht mehr zurecht – sie greifen nurmehr auf ihre digitale Friends zurück. Hüther bezeichnet dies als „Verinnerlichung virtueller Vorstellungs-welten“. Hirnforscher machten die Entdeckung, dass jene Hirnregion, die die Bewegungen der Daumen steuert, aufgrund des exzessiven Handy-gebrauchs seit geraumer Zeit wächst. Das Gehirn strukturiert sich nach neuen Erfordernissen um. Gleiches stellten Wissenschaftler in bereits älteren Tests mit Gaming, Alkohol und Cannabis fest. In allen drei Bereichen führen die positiven Belohnungen zur Ausschüttung des Glückshormons Dopamin (klassische Konditionierung). Somit versucht der Betroffene immer mehr des Dopamins zu erheischen (siehe hierzu auch mein Blog zum Thema „Glück“). Süchtige können recht leicht erkannt werden: Sie sind aggressiver als ihre Altersgenossen. Zudem lassen Leistungen in Schule und Arbeit nach.
Na cool!, höre ich nun viele Eltern sagen. Der hat ja keine Ahnung. Stimmt möglicherweise, doch besitzen viele der Antworten von ausge-wiesenen Experten denselben Inhalt. So betont beispielsweise der Stressmediziner und Endokrinologe am Medizinischen Zentrum Ulm, Alfred Wolf: Hunderte Dinge können nebenbei nicht erledigt werden. Ich kann nicht wirklich frühstücken und ständig in’s Smartphone oder das Pad schauen. Wenn jemand joggen will, soll er mal für eine halbe Stunde nicht erreichbar sein. Jeder soll sich auf eine Aufgabe konzentrieren, dann wird diese auch besser erledigt und die Welt wird entschleunigt! Das können Sie auch Ihren Kindern mit auf den harten Weg des Lebens geben!
Lesetipps:
.) Computersüchtig – Kinder im Sog der modernen Medien, Wolfgang Bergmann / Gerald Hüther; Walter Verlag 2013
.) Digitale Hysterie – Warum Computer unsere Kinder weder dumm noch krank machen; Georg Milner; Beltz Verlag 2016
Links:
– www.psychiatrie.med.uni-goettingen.de
– www.uke.de
– www.klagenfurt.at/leben-in-klagenfurt/gesundheit/suchtberatung.html
– www.onlinesucht.de/
– www.suchtvorbeugung.net
– suchthilfekompass.oebig.at
– www.medicinicum.at