Wenn das Sozialsystem versagt!
Mal ganz ehrlich: Wann ging es Deutschland dermaßen gut wie heute? In den 60er? Den 70er? Oder einem anderen Jahrzehnt? Gemessen an den weggeworfenen Nahrungsmitteln dürften wir (auch in Österreich) die Spitze erreicht haben. Jährlich landen alleine in Deutschland zwischen 15 bis 18 Millionen Tonnen davon im Müll (weltweit 1,3 Mrd – nach Angaben der FAO/in Österreich 760.000 Tonnen nach Angaben des Ökologie-Institutes)! Ein unglaublicher Berg, mit dem sicherlich dem Welthunger der Kampf angesagt werden könnte. Die meisten dieser Produkte wären gar noch zum Verzehr geeignet. Es handelt sich in vielen der Fälle um das Mindesthaltbarkeitsdatum, zu grosse Einkäufe oder auch Aufräum-aktionen in den Kühl- und Vorratsschränken. Doch beginnt die Wegwerf-kultur nicht etwa erst in den heimischen vier Wänden! Auch der Handel und Grosshandel entsorgt in grossen Mengen: Falsch etikettiert, Laden-hüter oder ebenfalls das MHD!
Viele Menschen würden sich glücklich schätzen, solche Nahrungsmittel oder Verbrauchsgüter bekommen zu können. Es liesse sich wohl ausge-zeichnet davon leben. Doch ist das alles nicht wirklich ganz so einfach. Containern bzw. Mülltauchen ist in den meisten Fällen verboten, da das wegwerfende Unternehmen auch dort haftet, sollte etwas geschehen. Deshalb versehen sehr viele Supermärkte ihre Müllcontainer inzwischen mit Ketten und Schlössern.
Wirklich bedürftige Menschen können dennoch von dieser Wegwerf-Gesellschaft profitieren: Über die Tafeln. Die Tafeln sind gemeinnützige Hilfsorganisationen, die bedürftige Menschen mit Waren versorgen, die vom Handel ansonsten entsorgt werden würden, da sie im Wirtschafts-kreislauf keine Verwendung mehr haben. Die erste Tafel öffnete im Jahr 1993 in Berlin ihre Pforten – initiiert durch Sabine Werth (in Österreich mit der Wiener Tafel 1999/in der Schweiz 2001 in Kerzers). Inzwischen sind es 947 in Deutschland (bei insgesamt 3.000 Ausgabestellen – auch in sozialen Einrichtungen). Die meisten der 60.000 Mitarbeiter versehen diesen Dienst am Menschen ehrenamtlich, also ohne Gehalt.
Jährlich werden rund 265.000 Tonnen Lebensmittel gesammelt. 1,65 Mio Menschen erhalten dadurch ein lebenswerteres Dasein. Gegen Nachweis der Bedürftigkeit (Hartz IV oder Sozialhilfe) können diese dort Nahrungs-mittel wesentlich günstiger einkaufen oder erhalten sie gar kostenlos. Viele der Tafeln sind Vereine, andere werden von Organisationen wie der Caritas oder der Diakonie betrieben. In Österreich gibt es 41 Ausgabe-stellen mit 2.205 ehrenamtlichen Mitarbeitern. 2018 wurden im Alpenland rund 3 Tonnen Lebensmittel gerettet um 42.620 von der Armut betroffenen Menschen damit zu helfen (Zahlen Jahresbericht 2018).
Dieser Tage nun richtete sich Jochen Brühl, der Vorstand des deutschen Dachverbandes, eindringlich an die Medien. Im Jahr 2007 waren zwischen Flensburg und Berchtesgaden gerade mal 700.000 Menschen auf die Hilfe der Tafeln angewiesen. Innerhalb von nur 12 Jahren hat sich die Zahl somit mehr als verdoppelt. Besonders tragisch ist der Anstieg bei den Senioren und den Kindern.
Es ist eine Schande, dass sich jene Menschen, die für den Aufbau Deutschlands und dessen heutigen Wohlstand verantwortlich zeichnen, auf Almosen verlassen müssen. Innerhalb kürzester Zeit explodierte förmlich die Zahl der bedürftigen älteren Tafelbesucher um 20 %! Inzwischen ist jeder Vierte ein Rentner. Zu geringe Renten, zu hohe Mieten oder gar die niedrige Grundsicherung lassen die so manche unserer Eltern und Grosseltern am Hungertuch nagen. Über die Altersarmut habe ich an dieser Stelle bereits berichtet. Eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung warnt lautstark davor: Werden nicht sofort Massnahmen dagegen gesetzt, wird die Altersarmut ein riesiges Problem der Gesellschaft werden. Schliesslich erreichen immer mehr jener Menschen das Pensionsalter, die in Teilzeit oder gar nur neben dem Haushalt in Geringfügigkeit beschäftigt waren. Sie wechseln dann mit der Mindestrente oder der Grundsicherung in den „wohlverdienten Ruhe-stand“. Nach Angaben des Sozialverbandes VdK ist die Zahl jener, die Anspruch auf Unterstützung hätten, sogar noch weitaus höher. Doch trauen sich 40-50 % nicht, diese zu beantragen, weil es entweder ihr Stolz nicht zulässt oder sie den staatlichen Zugriff auf das Vermögen ihrer Töchter und Söhne befürchten.
https://www.youtube.com/watch?v=3EcAqRM086U
Die Zahl der Kinder und Jugendlichen hat ebenfalls zugenommen: Innerhalb nur eines Jahres sind es 50.000 (10 %) mehr geworden – derzeit insgesamt 500.000. Jochen Brühl warnt auch hier: Viele können oder wollen sich einen Schulabschluss oder eine Ausbildung nicht leisten. Sie schlagen sich als Hilfsarbeiter oder noch schlimmer mit Gelegenheitsjobs durch’s Leben. Dadurch wird die Altersarmut von morgen heran-gezüchtet. Diese Kinder und Jugendliche haben fast keine Chance, dem Teufelskreis zu entkommen.
Aber auch viele Alleinerziehende, Langzeitarbeitslose, körperlich Eingeschränkte und auch Migranten sind auf die Hilfeleistungen der Tafeln angewiesen. Viele frieren zuhause, um sich Heizkosten einsparen zu können. Auch der Strom für den Kühlschrank oder die Gefriertruhe ist teuer. Damit können sie bei Schnäppchen in den Supermärkten oder Diskontern nicht reagieren.
Über Armut wird nicht gerne geredet – doch ist sie überall und steigt ständig an. Viele Organisationen fordern deshalb, die Armutspolitik ganz oben auf die Agenda zu setzen. Wer über seinen Verhältnissen lebt, ist selbst schuld. Dennoch gibt es viele, die unverschuldet in die Armutsfalle tappen: Trennung vom Lebenspartner, Verlust der Arbeitsstelle, Krankheit oder Unfall. Beim untersten Rand der Gesellschaft versagt zumeist das staatliche Sozialsystem. Nicht nur direkt, bei den Betroffenen. So berichtete die ehemalige Vorsitzende der Linkspartei, Sahra Wagen-knecht, in einem Round-Table-Gespräch in der ARD, dass einem Arbeitslosen, der sich über die Höhe des Arbeitslosengeldes erstaunt zeigte und meinte, wie er davon leben solle, vom Jobcenter-Mitarbeiter gesagt bekam, er könne ja zu den Tafeln gehen! ALG I berechtigt jedoch nicht zum Warenbezug bei den Tafeln.
Nein auch bei solchen Hilfsorganisationen wie den Tafeln versagt der Staat. Was in anderen Mitgliedsländern der EU selbstverständlich ist, nämlich solche Organisationen auch mit öffentlichen Geldern zu unterstützen, stösst in Deutschland auf taube Ohren. Die Tafeln Deutschland haben 2018 laut Jahresbericht gerade mal eben 130.781,- € (2017 waren es noch 282.829,- €) erhalten – 36.581,- € mussten allerdings an Steuern bezahlt werden – damit verringerten sich die Netto-Zuschüsse der öffentlichen Hand auf knapp 94.000,- €! Nur einmal gab es einen höheren Betrag für das Sammeln regionaler Waren. In Österreich konnte ich bei meiner Suche nach staatlichen Subventionen gar nichts finden!
Die Tafeln Deutschland arbeiten schon seit geraumer Zeit an ihren personellen Grenzen. Aber auch der Lager- und Kühlraum sowie die Beförderungsmittel bereiten inzwischen große Sorgen. So hätten im vergangenen Jahr noch wesentlich mehr Lebensmittel gerettet werden können – einzig: Es fehlte an Transportern und Lagermöglichkeit.
Obgleich der Anteil an Migranten im vergangenen Jahr um 6 % zurück ging, sorgte v.a. die Essener Tafel für bundesweite Schlagzeilen. Der dortige Leiter, Jörg Sartor, entschloss sich, die Abgabe der Waren für einen gewissen Zeitraum nurmehr an deutsche Bedürftige durchzuführen. Als Grund gab er den Anteil von ausländischen Kunden mit 75 % an. Darunter waren offenbar auch viele Russlanddeutsche und Syrer, die sich offenbar nicht wie alle anderen auch anstellen wollten, drängelten und schubsten, sodass viele vor allem ältere Menschen nicht mehr kamen. Für die Politik jedoch war es offenbar nur eine Tagesschlagzeile, heisst es aus den Tafeln. Geändert habe sich seither nicht wirklich etwas. Der Soziologe Stefan Selke formulierte es in der Zeitung „Tagesspiegel“ drastisch aber durchaus korrekt:
„Sie (die Tafeln, Anmerkung des Schreiberlings) sind der Pannendienst einer sozial erschöpften Gesellschaft, die immer mehr ihrer Mitglieder als Überflüssige abspeist!“
Lesetipps:
.) Fast ganz unten – Wie man in Deutschland durch die Hilfe von Lebensmitteltafeln satt wird; Stefan Selke; Westfälisches Dampfboot 2009
.) Tafeln im flexiblen Überfluss. Ambivalenzen sozialen und ökologischen Engagements; Stephan Lorenz; transcript Verlag 2012
.) TafelGesellschaft. Zum neuen Umgang mit Überfluss und Ausgrenzung; Hrsg.: Stephan Lorenz; transcript Verlag 2010
Links:
– www.tafel.de
– dietafeln.at
– www.schweizertafel.ch/de/
– www.tischlein-deckdich.at
– www.tischlein.ch
– regionalbuero-zuerich.heilsarmee.ch