Arabischer Frühling – was übrig blieb! – Teil 2

Nachdem sich ein tunesischer Gemüsehändler im Dezember 2010 auf dem Marktplatz von Sidi Bouzid selbst verbrannte, war der Funke aus-gelöst: Ohne Rücksicht auf Ländergrenzen kam es in allen arabischen Ländern zu Demonstrationen, Unruhen, Revolutionen und Bürgerkriegen. Geschichtsexperten sprechen gar von einer „historischen Zäsur“ – ähnlich dem Fall der Mauer in Deutschland. Doch: War es ein Weg vom Regen in die Traufe? Gehen wir wieder in ’s Detail!

.) Jemen
Am 27. Januar 2011 greift der Arabische Frühling auf den Jemen über. Nicht weniger als 16.000 Menschen demonstrieren in der Hauptstadt Sanaa gegen das Regime von Präsident Ali Abdullah Salih. Die Proteste reissen auch nicht ab, als am 02. Februar Salih erklärt, dass er nicht wieder kandidieren und das Amt auch nicht an seinen Sohn weitergeben werde. Im März schlagen Soldaten die Unruhen blutig nieder. Doch gärt es weiter. Am 20. März wird die Regierung Salih entlassen – er erklärt sich jedoch erst im April dazu bereit zurückzutreten. Nun marschieren Stammesmilizen gegen die Regierungstruppen auf. Erst im November unterzeichnet Salih ein Abkommen, das die Machtübergabe an den Vizepräsidenten Abed Rabbo Mansur Hadi vorsieht und innerhalb von 90 Tagen Präsidentschaftswahlen zusagt. Dieses wird jedoch nicht von den schiitischen Huthi anerkannt. Salih verbündet sich mit ihnen gegen die Übergangsregierung, die späterhin faktisch entmachtet wird. Inzwischen haben sich einzelne Generäle mit ihren Truppen selbständig gemacht – sie spielen nach eigenen Regeln. Am 26. März 2015 beginnt die „Operation Decisive Storm“ („Sturm der Entschlossenheit“), eine politische und militärisch Intervention, angeführt von Saudi-Arabien und den Teilnehmerstaaten Ägypten, Bahrain, Katar, Kuwait, den VAE, Jordanien, Marokko sowie dem Sudan und dem Senegal. Unterstützt wird diese Allianz von den USA, Frankreich und Grossbritannien. Truppen greifen, ebenso wie Teile der Armee und der sunnitischen Stammesmilizen auf der Seite des rechtmässigen Präsidenten Hadi ein. Allerdings kämpfen auch die al-Qaida (AQAP) und ein Ableger des IS gegen die Huthi-Rebellen. Sie verfolgen jedoch eigene Interessen. Obgleich die Rebellen nahezu keine Gebietsverluste zu beklagen haben, erklärt Saudi-Arabien die Operation bereits am 21. April 2015 als beendet. Gewinner hingegen sind die Dschihadisten, die die Kontrolle über weite Gebiete entlang der Küste des Golfs von Aden erlangten. Am 22. April beginnt die „Operation Restoring Hope“ („Wiederherstellung der Hoffnung“). Inzwischen meldet sich der UN-Koordinator für humanitäre Angelegenheiten zu Wort. Er bezeichnet die Luftangriffe der Allianz als Verstoss gegen das inter-nationale humanitäre Völkerrecht. Während im Jemen weiterhin gekämpft wird, enden die durch die UNO vermittelten Friedensgespräche in Genf ohne Ergebnis. Die humanitäre Situation ist bereits dermassen proble-matisch, sodass die UNICEF im Jahr 2018 von „living hell for children“ spricht. Marokko und die VAE ziehen daraufhin Truppen aus der Allianz ab. Der erste Waffenstillstand im April 2020 wird auch von Saudi-Arabien selbst nicht eingehalten, obwohl von dort ausgerufen. Den zweiten Waffenstillstand im März 2021 lehnen die Huthi-Rebellen ab. Der Bürger-krieg tobt weiter.

.) Libyen
Am 18. Februar 2011 kommt es in der libyschen Hafenstadt Bengasi zu Massenprotesten! Nachdem die Einsatzkräfte hart durchgreifen, sind Dutzende Todesopfer zu beklagen. Staatschef Muammar al-Gaddafi will die Zustände von Tunesien und Ägypten in seinem Land verhindern: Er kappt die Internetverbindungen, wodurch selbstverständlich auch Face-book und Twitter betroffen sind. Nachdem das Militär brutal gegen die Demonstranten vorgeht, treten viele hochrangige Politiker zurück. Im Osten des Landes sammeln sich unterdessen die Gegner Gaddafis. Dort bringen sie weite Gebiete unter ihre Kontrolle. Aus den Demonstrationen hat sich ein blutiger Bürgerkrieg entwickelt. Am 17. März verabschiedet der UN-Sicherheitsrat die „Resolution 1973“ (zehn Ja-Stimmen und fünf Enthaltungen). Gefordert wird dabei ein sofortiger Waffenstillstand und die Einrichtung einer Flugverbotszone. Die Einhaltung dieser kontrollieren NATO-Truppen – allen voran die USA und Grossbritannien. Mit Hilfe dieser NATO-Truppen gelingt es den Rebellen, die inzwischen einen Nationalen Übergangsrat gegründet haben, Gaddafi zu stürzen. Am 20. Oktober wird er nahe seiner Geburtsstadt Sirte aufgegriffen und unter nach wie vor noch nicht geklärten Umständen erschossen. Am 07. Juli 2012 finden die Wahlen zum Allgemeinen Nationalkongress statt. 39 der 80 Parteisitze gehen dabei an die Allianz der nationalen Kräfte unter Mahmud Dschibril. Am 04. Dezember stimmt die Nationalversammlung für die Einführung der Scharia. Diese Entscheidung lässt den Bürgerkrieg erneut aufflammen. Die beiden Fronten werden von den unter-schiedlichsten Staaten mit den unterschiedlichsten Zielen unterstützt, darunter Russland, die Türkei, Frankreich, Italien und die USA. Nach intensivster Vermittlung durch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ist es inzwischen ruhiger geworden.

.) Syrien
Die ersten Proteste werden durch die Verhaftung von 15 Kindern in Syrien losgetreten. Zahlreiche Oppositionelle werden festgenommen, die Truppen von Präsident Baschar al-Assad gehen immer blutiger vor. So sterben in der Stadt Hama im August 2011 100 Menschen. Mit Boden-truppen und Panzern, unterstützt von Kriegsschiffen rückt Assad auf die Hafenstadt Itakia vor. Dennoch reissen die Proteste nicht ab. Assad reagiert mit einer Regierungsumbildung und der Aufhebung des Aus-nahmezustands. Dennoch werden immer mehr Städte zu Brennpunkten. Im Sommer 2011 bilden desertierende Soldaten die Freie Syrische Armee mit dem Ziel, Zivilisten von den bewaffneten Übergriffen zu schützen. Die Proteste und Demonstrationen weiten sich immer mehr zum Bürgerkrieg aus. Assad lenkt erneut ein und lässt ein Verfassungsreferendum durch-führen. Dabei wird der Führungsanspruch der Baath-Partei von Assad und der Sozialismus aus der Verfassung gestrichen. Bis einschliesslich Juli 2013 sollen nach UN-Angaben mehr als 100.000 Menschen ums Leben gekommen sein – eine Million Menschen sind ins Ausland geflohen, vier Millionen im Land selbst auf der Flucht. Assad lässt inzwischen Nerven-gas (Sarin) etwa in Ghuta einsetzen – trotz der eindeutigen Zuordnung durch UN-Experten, bestreitet dies der Machthaber bis zuletzt und schiebt es dem Gegner zu. Ab Mai 2013 unterstützen die Hisbollah, ab 2015 auch Russland das Assad-Regime. Der Bürgerkrieg dauert nach wie vor an. Auch der Islamische Staat (IS) nutzte die Gunst der Stunde und errang innerhalb kürzester Zeit grosse Gebietserfolge.

.) Bahrein
Dort, wo sprichwörtlich das Geld aus dem Boden fliesst, würde sich kaum jemand Proteste erwarten. Trotzdem erfasst der Arabische Frühling auch das Königreich am Golf. In diesem Falle errichten am 14. Februar 2011 einige Hundert Demonstranten eine illegale Zeltstadt auf dem Perlenplatz der Hauptstadt Manama. Die Schiiten (der Grossteil der Bevölkerung) protestieren damit gegen das sunnitische Königshaus unter Hamad bin Isa Al Chalifa. Der lässt die Zeltstadt durch Sondereinheiten der Polizei räumen. Dadurch werden aus den einigen Hundert mehrere zehntausend Menschen, die sich auf den Strassen versammeln. Die Regierung schickt ein Hilfegesuch in Richtung Saudi Arabien, das mit rund 1000 Soldaten antwortet. Im Land wird der Ausnahmezustand ausgerufen, die Demonstrationen blutig niedergeschlagen. Hierauf treten einige hochrangige schiitische Politiker und Richter zurück. Verhaftungen folgen, dennoch werden die Proteste fortgesetzt – auch während des Formel I-Rennens 2012. Der Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten dauert nach wie vor an.

.) Dschibuti
Auch hier gehen tausende Menschen am 18. Februar 2011 auf die Strasse um gegen die Regierung unter Präsident Ismail Omar Guelleh zu demonstrieren. Es folgen alsdann Verhaftungen und das Versprechen des Präsidenten, Reformen anzugehen. Dieser wird bei der Präsidentschafts-wahl am 08. April erneut gewählt. Nach Oppositionsangaben verlief die Wahl nicht fair.

.) Irak
In Basra (Südirak) beginnt am 22. Februar 2011 der Arabische Frühling, drei Tage später werden auch in anderen Landesteilen Proteste gemeldet. Die Demonstranten prangern damit vornehmlich die Korruption und die hohe Arbeitslosigkeit an. Abhängig von der Region gehen Sunniten und Schiiten, aber auch Kurden auf die Strasse. Nachdem Demonstranten versucht hatten, Regierungsgebäude zu stürmen, greifen die Sonder-einheiten gewaltsam durch; viele Menschen kommen dabei ums Leben. Der Gouverneur von Basra, Scheltak Abbud, tritt am 25. Februar zurück – ihm galten wohl die meisten Proteste.

Weitere Proteste gab es in Mauretanien (gegen die Sklaverei), dem Oman (politische Reformen), den Palästinensischen Gebieten (politische Reformen), dem Sudan (politische Reformen) und auch Saudi-Arabien (konstitutionelle Monarchie und gerechtere Verteilung des Wohlstands). Die jeweiligen Machthaber reagierten mit Versprechungen für Reformen und Verfassungsänderungen – zumeist waren sie das Papier nicht wert, auf dem die Unterschriften gesetzt wurden. Viele Machthaber oder deren gleichgesinnten Nachfolger sind nach wie vor im Amt. In nahezu keinem Land des Arabischen Frühlings hat sich die Situation für das Volk verbessert. Meist folgte auf eine Autokratie die nächste Autokratie. Der Wunsch nach Freiheit, Demokratisierung und Menschenrechten ist zumeist als Traumblase geplatzt.
Auch in nicht-arabischen Staaten kam es zu grossen Demonstrationen und Protesten: China, dem Iran, Malawi – ja sogar in Spanien. In Israel löste die obdachlos gewordene Filmemacherin Daphni Leef im Juli 2011 eine Protestwelle mit hundertausenden Teilnehmern aus. Als sie ihre Miete nicht mehr bezahlen konnte, schlug sie ihr Zelt auf dem Mittelstreifen des Rothschild-Boulevards in Tel Aviv auf. Viele folgten ihr, noch mehr der Idee des Protests für soziale Gerechtigkeit. Minister-präsident Benjamin Netanjahu versprach auch hier Reformen. Die meisten verliefen angesichts Corona im Sande.
Viele von Ihnen werden nun sagen: Arabien – das ist weit weg, geht mich deshalb nichts an! Tatsächlich sind diese Entwicklungen auch in Europa sehr stark zu spüren: Viele Menschen flüchten in den vermeintlich „goldenen Norden“. Neue Probleme warten auf sie! Ein neues Leben, das zumeist nicht besser ist als das, das sie vor ihrer Flucht geführt haben. Gelingt es der Staatengemeinschaft nicht, die Probleme vorort, wie Korruption, Gewalt, Diskriminierungen, Wirtschaft etc. zu lösen, wird der Flüchtlingsstrom niemals abreissen, sondern immer grösser werden. Besonders die Ausbeutung der dortigen Bevölkerung durch globale Multi-player, ermöglicht durch die Bereicherung der regierenden Autokraten, sollte als erstes gestoppt werden.

Nahezu jede Revolution beginnt durch den Kampf ums Brot!

Filmtipps:

– www.arte.tv/de/videos/103264-001-A/wo-steht-die-arabische-welt-heute/
– www.arte.tv/de/videos/101716-000-A/10-jahre-arabischer-fruehling -eine-bilanz/

Lesetipps:

.) Der arabische Frühling. Als die islamische Jugend begann, die Welt zu verändern, Jörg Armbruster; Westend Verlag 2011
.) Der Aufstand: Die arabische Revolution und ihre Folgen; Volker Perthes; BPB 2011
.) Tage des Zorns. Die arabische Revolution verändert die Welt; Michael Lüders; C.H.Beck 2011
.) Krieg oder Frieden: Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens; Hamed Abdel-Samad; Droemer 2011
.) Der arabische (Alb-)Traum. Aufstand ohne Ziel; Anne-Béatrice Clasmann; Passagen Verlag 2016
.) Arabiens Stunde der Wahrheit. Aufruhr an der Schwelle Europas; Peter Scholl-Latour; Propyläen-Verlag 2011
.) Vernetzt Euch!; Lina Ben Mhenni; Ullstein 2011
.) The New Middle East: Protest and Revolution in the Arab World; Hrsg.: Fawaz A. Geerges; Cambridge University Press 2014

Links:

– unric.org
– www.giga-hamburg.de
– www.bpb.de
– www.swp-berlin.org
– www.kas.de
– www.boell.de
– www.bildungsserver.de
– www.zfw.uni-hamburg.de

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